Brotliebe

Die alte Frau beugte sich über den Rand des Ufers, während sie aus ihrer Manteltasche Brotkrummen herausholte. Wo waren die Enten geblieben? Sie blickte um sich, doch der Nebel verunmöglichte einen Horizont. Sie zog den Mantel enger um sich, einen Schal hatte sie nicht dabei. Ach, sie war zu vergesslich geworden in letzter Zeit. Wo waren denn die Enten?

Es war kalt, und die Frau hustete in die bewegte Abendluft. Der Himmel war bedeckt, der Schnee liess auf sich warten. Sicher, es war kalt, aber sie musste doch ihr Brot verteilen.

Früher hatte sie das Brot nicht aufgespart. Sie und ihr Ehemann hatten das Brot lieber selber gegessen. Was waren das für Zeiten gewesen, als sie und Moritz am Sonntag das Frühstück zelebrierten. Frühstück im Bett, mollig warm eingewickelt in die Decken, die sie jeden Samstag gewechselt hatte. Moritz hatte sie dafür immer verwöhnt, mit Weissbrot, Dinkelbrot, Pumpernickel-, Nuss- und Ruchbrot. Manchmal überraschte er sie auch mit Gipfeli, die er unbemerkt eingekauft hatte. Mit den Jahren assen sie lieber altes Brot, das schön weich im Gaumen kleben blieb, wenn man dazu eine Tasse Tee trank.

Da, war das nicht eine Ente? Doch, ein einzelner Erpel kam auf sie zu, spielte mit dem Wasser, verweilte vor ihr und blickte sie dann herausfordernd an. Dankbar öffnete die Frau ihre Hand und warf das Brot in seine Richtung. Sofort pickte das Tier mit seinem Schnabel auf die Wasseroberfläche. Die Frau bewunderte seine Grazie, keine einzelne Bewegung schien vergebens zu sein. Die Alte griff erneut in ihre Tasche, die Fertigkeit der Ente sollte belohnt werden. Langsam liess sie Happen für Happen aus ihrer Handfläche in die Tiefe unter ihr verschwinden. Zugleich schnappte die Ente danach und ass weiter.

Brot hatten sie immer gemocht, es war eine Gemeinsamkeit gewesen, so dass sie ihr Ritual immer genossen. Wenn sie sich gestritten hatten, dann versöhnten sie sich spätestens, wenn Moritz ihr oder sie ihm ein Butterbrot schmierte. Wenn sie sehr glücklich miteinander waren, gönnten sie sich dazu auch Käse und Schinken, manchmal sogar ein Ei. Aber das Brot war immer das Wichtigste gewesen. Früher hatte sie es auch selbst gebacken, aber mit den Jahren wurde das doch zu anstrengend.

Ob die Ente noch Hunger hatte? Die Frau schaute in den Himmel, der sich weiss vor ihr ausbreitete. Was würde Moritz sagen? Noch mehr Brot?

In der linken Manteltasche hatte sie noch die Reste eines Schinkenbrötchens, das sie für sich zum Mittagessen gekauft hatte. Sie trennte das Brot vom Fleisch und brach es in kleine Stücke. Doch dieses Mal warf sie es nicht direkt ins Wasser. Sie blickte wieder gen Himmel. Mit einem Mal entrann ihr ein Wort, ein einziges kam über ihre Lippen: „Moritz!“ Sie schrie es nicht, sie röchelte bekümmert und schmerzverzerrt. Die Ente verstand nicht und quakte empört. Die Frau aber warf die vollen Hände in die Luft, die Brotkrummen suchten ihren Weg hinauf in die Höhe, doch es gelang ihnen nicht zu fliegen. Geräuschvoll plumpsten sie ins Wasser, der Ente vor den Schnabel, die unbeirrt weiter pickte und keine Fragen stellte. Die Alte starrte aufs Wasser.

Seit Moritz nicht mehr da war, ass sie kein Brot mehr. Das war immer ihre Gemeinsamkeit gewesen. Und wenn Moritz kein Brot mehr essen konnte, dann konnte sie das auch nicht mehr. Aber sie kaufte es immer ein, immer. Wenn sie sonntags aufwachte, führte sie ihr erster Gang in die Küche, wo sie das Brot, das sie am Vortag ausgesucht hatte, in dicke Scheiben schnitt. Sie bereitete den Teller vor, Butter, Konfitüre, eine Tasse Tee. Mit dem Tablett in der Hand ging sie dann zurück unter die mittlerweile kalten Decken des Bettes und legte sich das volle Brett auf die knochigen Oberschenkel. So sass sie dann eine Stunde oder mehr still da, mit dem unberührten Teller vor sich. Sie starrte die Wand an, während der Geruch des Brotes sich im Zimmer breit machte. Aber seit Moritz nicht mehr da war, hatte sie keinen Hunger mehr. Das Brot, das sie nicht mehr ass, sparte sie für die Enten auf, die nichts um die Einsamkeit einer alten Frau und die gemeinsame Liebe zum Brot wussten.

Ein kalter Windhauch blies ihr ins faltige Gesicht. Ach wenn, ach wenn nur die Zeit schneller verginge und sie mitnähme.
Die Ente war satt und drehte ab. Irgendwo im Gebüsch würde sie sich niederlassen und auf den nächsten Tag warten. Auch die Alte drehte ab, ging nach Hause und wartete mit der Ente auf den nächsten Tag. Wenn nur die Zeit schneller verginge.

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