Über die Vergänglichkeit: Fotos und der Drang nach Ewigkeit

Die liebe @Endwinterwunder ist untröstlich, weil ihr Mann aus Versehen die aktuellen Fotos auf ihrem Smartphone gelöscht hat. Darauf waren die Bilder vom Rundflug über Berlin gespeichert, den ihr schwerkranker Schwiegervater gerade mit der siebenjährigen Enkelin Flummi absolviert hat. Ein Lebenstraum! Ein Erlebnis für die Ewigkeit. Und nun: Fotos weg. Vergänglichkeit? Endwinterwunder ist traurig, weil sie befürchtet, dass ihre Tochter sich später nicht mehr an diesen speziellen, intimen Moment erinnern wird, wenn sie keine Bilder zur Gedankenstütze hat. Ich habe versucht, sie zu trösten. Meine Gedanken dazu:

Der schönste Tag meines Lebens war nicht die Geburt meiner Kinder. Es war meine kirchliche Hochzeit. Dieser Tag war überirdisch, ich hatte am nächsten Tag Muskelkater im Gesicht vor lauter Strahlen. Hey, es gibt Gesichtsmuskeln, von denen wissen wir gar nicht, dass sie existieren! Ja, so schön war das. Meine Mutter wollte in der Kirche filmen. Wie es so ist an so einem Tag, es wurde alles sehr hektisch vor dem grossen Moment. Der Lebenspartner meiner Freundin aus Paris war (und ist) ein Kirchenverweigerer. Er wollte das Gebäude nicht betreten. Und es kam, wie es kommen musste. Meine Mutter drückte ihm dankbar ihre schwere Tasche in die Hand und eilte in die Kirche. Die Kamera in der Tasche blieb somit draussen vor der Tür, zusammen mit dem rauchenden Partner meiner Freundin. Es gibt kein Video unserer Eheschliessung. Ich werde mich nie mehr Wort für Wort an das erinnern können, was der Pfarrer gesagt hat. Unser Ehegelöbnis haben wir aufgeschrieben, das können wir uns in ein paar Jahrzehnten im Streit wütend um die Ohren hauen. Aber der Rest? Ist in meinem Herzen eingebrannt. Es ist gut so.

Wir haben bei unserem ersten Kind gefühlte Millionen von Bildern geschossen. Wir haben es sogar geschafft, ein (!) ganzes physisches Fotoalbum mit Bildern zu basteln. Der Rest existiert nur digital. Naja existierte. Ich habe nämlich aus Versehen die Kinderbilder von ca. 2011 bis 2012 unwiderruflich gelöscht. Wenn das meinem Mann passiert wäre, hätte ich ihn wahrscheinlich umgebracht. So aber kann ich nur zähneknirschend flüstern: Shit happens. Kekse?

Heute sehe ich das alles viel gelassener. Es sind nur Bilder. Es sind Gegenstände. Eine Momentaufnahme. Was zählt, sind doch aber die Erinnerungen im Herzen. Und die entstehen nur, indem wir darüber sprechen, die Erinnerung am Leben halten. Wenn ich einmal sterbe, werde ich die Fotos nicht mitnehmen können. Meine Kinder werden die Bilder nicht verstehen, wenn ich ihnen nicht erzähle, was sie mir bedeuten und ihnen bedeuten sollen oder können. Ich denke an die Fotoalben meiner verstorbenen Grossmutter in Frankreich, die ich so gerne besitzen würde. Mit den Bildern kann ich nicht viel anfangen, denn ich kenne die Geschichten dahinter nicht. Aber ich weiss, dass die Bilder meiner Grossmutter einmal etwas bedeutet haben. Dass das echte Menschen auf den Bildern waren, Emotionen! Das erst macht sie wertvoll. Ich möchte nicht, dass die Bilder weggeworfen werden, ich möchte sie aufbewahren.

Aber ob ich jetzt Bilder von meinen Kindern besitze oder nicht – sie werden immer das wichtigste in meinem Leben sein. Gibt es von Copperfield genauso viele Bilder und Videos wie von LadyGaga? Nein. Aber liebe ich ihn deswegen weniger? Nein. Werde ich mich weniger an seine Geschichte als an ihre erinnern? Definitiv nein. Das ist alles eingebrannt in mir.

Dazu kommt: Die Erinnerung ist selektiv und emotional geprägt. Je mehr Zeit vergeht im Leben, desto weniger hat die Erinnerung an die Vergangenheit mit der Realität zu tun. Das ist auch ein Schutzmechanismus der Natur, da wir schlechte Erinnerungen gerne verdrängen. Ausserdem kann man sich unmöglich alles merken, sofern man kein fotografisches Gedächtnis hat. Wir selektionieren unbewusst. Das muss so, alles andere wäre ungesund für uns. Die Erinnerung wird überwachsen von neuen Empfindungen und auch Erlebnissen. Erinnerung ist wandelbar. Wie oft kommt es vor, dass jemand mir sagt. «Weisst Du noch, damals…?» Ja, ich weiss es noch. Aber meine Erinnerung sieht ganz anders aus. Oder ich erinnere mich eben nicht mehr, weil es mir nicht so wichtig war. Und hey, ICH BIN KEINE 80!!! So läuft das einfach im Leben.

Deshalb weiss ich heute: Erinnerung ist willkürlich. Es braucht keine Fotos für die Ewigkeit, die Ewigkeit ist in unseren Herzen und in unseren Kindern, die den Gedanken weitertragen.

Heute aber wollen wir alles festhalten, archivieren, den Nachlass quasi schon im Voraus regeln. Ich bin da keine Ausnahme. Ich horte die schönen Kinderkleider im Keller – für später, wenn die Kinder gross sind. LadyGaga hat bereits jetzt vier volle Kisten. Meine Mutter hat aus meiner Kleinkindzeit eine halbe Kiste mit zum Teil selbstgenähten Kleidern aufbewahrt, die ich heute hüte wie einen Goldschatz – weil es eben auch nicht so viel davon gibt. Ich bin dankbar um alle Erinnerungsstücke aus meiner Kindheit – weil die Generation unserer Eltern gar nicht die Möglichkeit hatte oder kannte, Erinnerung zu konservieren, wie wir das heute tun. Und dennoch kann ich mich sehr gut an früher erinnern. Gut genug für mich zumindest. Übrigens vor allem über Gerüche, aber das ist ein anderes Thema.

Wir aber schiessen heute 200 Bilder mit dem immer gleichen Motiv, um das perfekte Bild zu kreieren. Die 199 anderen löschen wir nicht. Was werden unsere Kinder eines Tages mit dieser Informationsflut anstellen? Wird LadyGaga eines Tages verächtlich 10 Kisten Kinderkleider wegwerfen?

Ich bleibe dabei: Erinnerung ist beweglich, sie verformt sich und trägt immer wieder neue Blüten. Es braucht eine Seele dazu. Deshalb, liebe Endwinterwunder: Sprich mit Flummi über den bewussten Moment mit ihrem Grossvater, damit sie sich später besser daran erinnern kann. Alles andere ist nur Schall und Rauch. Und wie Du mir gesagt hast: EIN Bild konnte ja gerettet werden. Und das wird Flummi eines Tages ja vielleicht hüten wie einen Schatz.

Meine geliebte Grossmutter durfte unsere Hochzeit übrigens noch erleben. Dieses Bild ist Teil meines Schatzes

 

Und wenn ich das Bild nicht hätte – ich würde sie trotzdem nie vergessen.

 

8 thoughts on “Über die Vergänglichkeit: Fotos und der Drang nach Ewigkeit

  1. Wundervoll geschrieben!
    Kinder Fotos von mir habe ich auch kaum welche & von den die ich habe kann ich keine besondere Erinnerung zu ordnen. Meinst muß mir meine Mutter erzählen was da los war.
    Dafür erinnere ich mich an viele andere Dinge, wie Situationen mit meiner uroma oder spiele die ich mit meiner Schwester gemacht hatte usw. Alles wundervolle Erinnerungen, noch so lebending und emotional und alles ohne Fotos!
    Klar, wenn Fotos gelöscht werden ist es immer schlimm, aber was einst mit dem Herzen gesehen wurde, wird nie verschwunden sein!
    LG Nicky

  2. Die generelle Frage: müssen wir so viel anhäufen? Sei es Besitz oder vermeintliche Erinnerungen? Sind die Erinnerungen im Herzen nicht viel mehr wert als alles andere.
    Liebe Grüße
    Suse

  3. Danke für den Beitrag. Je größer die Kinder werden, umso weniger Bilder gibt es von ihnen. Sie verschwinden einfach zu schnell aus dem Sucher. Das ist aber auch Sinn der Sache. Die wichtigen Momente, ob glückliche oder traurige bleiben im Gedächtnis gespeichert, auch wenn sich da manches zu einem anderen Bild verschiebt.
    In diesem Sinne gehe ich mal die Festplatte aufräumen…

  4. Und ich muss jetzt wirklich fast weinen, und ich muss fast nie bei Texten weinen. Wie wunderschön ist er, dieser Text. 🙂 Danke. 🙂

  5. Awww hast du das schön geschrieben, schluchz…und ja, du hast so recht. Die Erinnerungen sind in unseren Herzen besser gespeichert als man es auf 100 Festplatten je könnte <3 dazu passend ein Zitat aus dem zauberhaften kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry: "Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar."

  6. Das ist so ein schöner Text, ehrlich!
    Ich glaube auch, dass dir wirklich wichtigen Dinge im Herzen eingebrannt sind, ganz fest. Die laufen dann wie ein Film von selbst ab, wann immer man möchte. Aber ich kann auch Endwinderwunder verstehen, denn manche Dinge teilt man ja doch gerne mit anderen. Ihre Tochter wird, selbst wenn sie sich an alles erinnert, ihren Freunden nur davon berichten können. Fotos wären in dem Fall einfach schön gewesen.
    Und du hast natürlich recht, diese Bilderflut ist gruselig. Meine Rede. 🙂

    Liebste Grüße!

  7. Hallo,

    Ich arbeite selbst als Fotografin und gebe dir Recht: Eine Bilderflut als Erinnerungshilfe ist nicht notwendig, ich würde solche Massenansammlungen eher als Belastung ansehen. Aber ein paar, hochwertige Bilder hebe ich gerne auf. Die haben für mich eine Bedeutung und Wert. Wenn es mir mal nicht so gut geht, hole ich gern ein liebevoll gestaltetes Fotoalbum aus dem Regal und schwelge in den Erinnerungen. Wichtig finde ich, gut auszuwählen, welche Fotografien man behalten möchte. Dann haben die wenigen auserwählten auch dementsprechend viel Bedeutung und Erinnerungswert.

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