Die Sächsische Schweiz von Nieselpriem

Muss ich euch Henrike überhaupt vorstellen? Wer aus der Szene kennt sie denn nicht?! Die Dresdnerin hat das Herz am rechten Fleck und bloggt unter Nieselpriem äusserst witzig über ihr Leben mit ihren drei Männern zuhause. Ich sage euch, da bleibt kein Auge trocken. Einer meiner ersten Freunde kam ja aus Dresden. Auch der war lustig. Aber Rike sprudelt über vor Witz, Charme und auch Güte. Wohnte sie in meiner Nähe, ich würde bestimmt jeden zweiten Tag vor ihrer Haustür stehen und wirres Zeug reden, warum ich sie heute wieder brauche. Vielleicht weil ich eine Leuchtturm-Kuchenform benötige? Ich durfte sie bereits zweimal in Berlin treffen und habe mit ihr und Andrea von Runzelfüsschen zusammen Sekt trinkend meine aktuelle Liebeskind-Tasche geshoppt. Rike kann aber nicht nur witzig. Ihre stillen, tiefen Moll-Töne berühren mich jedes Mal bis ins Mark. Sie erzählt uns heute von ihrem Vater, der im Juli vor 25 Jahren bei einem Autounfall verstarb. Danke, dass Du uns hier einen Einblick in Deine Familiengeschichte gewährst, ich fühle mich geehrt! Und: Du hast die Augen Deines Papas!

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Als Séverine mich fragte, ob ich was zum Thema «Schweiz» schreiben würde, sagte ich spontan: «Oh ja, gern! Ich habe meine gesamte Kindheit in der Schweiz verbracht!»

«Die Schweiz» ist für jeden Dresdner zuerst einmal die Sächsische Schweiz. Vor Glasnost und Perestroika wohl sogar für jeden Ossi überhaupt. Welche sollte denn auch sonst gemeint sein?!

War «Und, was macht ihr am Wochenende?» die Frage, so lautete die Antwort stets: «Wir fahren in die Schweiz!»
Ich hatte als Kind noch samstags Schule und wenn ich gegen elf die Straße zu unserem Haus entlangging, standen meine Eltern schon mit Sack und Pack ungeduldig wartend vorm Auto. Angezogen mit Kniebundhosen aus Cord oder Leder, dicken Kniestrümpfen in Bergstiefeln und jeder mit einem kariertes Flanellhemd. Als Bergsteiger von weitem erkennbar. Neben ihnen zwei Rucksäcke (einer rot, einer blau) mit Seilen, Karabinern und Kletterschuhen in dem einen. Und Wasserflaschen, Kartoffelsalat, Schnitzelchen und Hackklopsen in dem anderen.

mein Vater (rechts), daneben meine Mutter und die gemeinsamen Freunde in der Schweiz.

 

Irgendwo hinter Pirna stießen dann die Bergfreunde meiner Eltern dazu, und in einer lustigen Truppe von sechs oder acht Erwachsenen und zwei Kindern machten wir uns auf in die Berge. In die Schweiz. Bielatal, Lorenzstein, Pfaffensteine, Affensteine. Tunlichst vermieden wir die von Touristen ausgelatschten Wege um Bastei und Königstein, die von stöckelbeschuhten «Bastei-Geiern» bevölkert wurden, die ihre Handtaschen schwenkten.

Ein Bergsteigerkind zu sein, war nicht aufregend für mich, ich kannte ja gar nichts anderes! Jedes Wochenende von Ostern bis in den Herbst hinein verbrachte ich zwischen Felsen, Kiefern und Tannen. Spielte im Sand mit Stöckchen und Steinen und die Bergfreunde meiner Eltern waren meine «Onkel» und «Tanten». Sie versteckten Ostereier auf dem Weg zum anvisierten Gipfel, badeten mit mir in der Biela, versorgten mich mit Leckereien aus ihren Rucksäcken und trugen mich auch mal oben auf denen sitzend ein Stück.

Boofen war Abenteuer! Eine Boofe ist eine Höhle im Felsen, in der Bergsteiger übernachten können. Manche sind nur so schmal, dass ein Mensch gerade so drin liegen kann, und in luftiger Höhe gelegen, nur durch einen Kletteraufstieg zu erreichen… Andere wiederum groß genug, dass zehn Personen bequem drin um ein Feuerchen campieren können.

Einmal war ich dabei beim Boofen, denn so ganz ungefährlich ist das nicht und war zu DDR-Zeiten zeitweise verboten. Die Erwachsenen schleppten Wasserschläuche mit Quellwasser und Luftmatratzen, Schlafsäcke und Zeugs in die Boofe. Mein Vater obendrein noch einen Nachttopf, denn er war mit mir gestraft: Nicht nur, dass ich Höhenangst hatte und partout keine draufgängerischen Bergsteigergene zu entwickeln gedachte, ich war außerdem auch noch «schinant» – «verschämt», würde der Hochdeutsche sagen. Ich weigerte mich, in den Busch zu pullern, wollte partout Hände waschen (was kostbares Trinkwasser kostete) und fand es nur seltsam, dass man in den Bergen nicht auf die herkömmliche Art Zähne putzt, sondern stattdessen einen Apfel isst. Zur Zahnreinigung!

An besagtem Wochenende richteten die Frauen zwei nebeneinanderliegende Boofen her, während die Männer am Felsen hingen. Ein Sommergewitter offenbarte, dass eine winzige Rinne in der Decke unserer Boofe war und diese mitsamt der Habe meiner Eltern flutete. Ich saß nach Angaben meiner Mutter unter einer Regenplane bei «Tante» Benita, während meine arme Mutter verzweifelt heulend versuchte, die Luftmatratzen, Kochgeschirre und so weiter festzuhalten, die von der Sintflut mitgerissen den Abhang hinunterschwammen.

(Also ich hätte das Handy genommen, den Bärtigen vom Felsen runterzitiert und stampfend erklärt, dass es jetzt aber reiche! Und zwar ein für alle Mal!)

Nein, meine Eltern sind aus einem anderen Holz (und das Handy war noch nicht erfunden).

Wir blieben. Alle sammelten unser nasses Zeug im Wald zusammen und gaben jeder irgendwas Trockenes, und so nächtigten wir aneinandergeschmiegt alle zusammen in der einen Boofe, die trocken geblieben war.

Die Seilschaft meines Vaters war ein eingeschworenes Trüppchen. Wenn ich mir jetzt die alten Fotos ansehe, wird mir ganz warm ums Herz. Sie waren Freunde, die auch im Winter zusammen feierten, derbe Witze machten und verrückte sportliche Aktivitäten. Aber mehr noch waren sie eine Seilschaft, auf einander angewiesen, einer dem anderen blind vertrauend. Am Felsen wie auch im Leben.

Günter hat meinem Vater einmal das Leben gerettet und kam damit sogar in die Sächsische Zeitung. Mein Vater erlitt am Fels einen Magendurchbruch und konnte sich nicht mehr abseilen. Günter hat sich den baumlangen Kerl irgendwie umgeschnallt und sich mit ihm abgeseilt.

Mein Vater (rechts) mit Peter

Und Peter hier links, dieser lustige Kerl, der aussieht wie Klaus Kinski, hätte sicher dasselbe getan. Er ist mittlerweile über siebzig und hat über seine Bergsteigererlebnisse sogar ein Buch geschrieben. Die Freunde teilten jahrelang eine hungrige, unstillbare Sehnsucht nach den Alpen. Sie träumten von den unerreichbaren Gipfeln hinter dem eisernen Vorhang, die Männer mit den schrundigen Händen. Besonders der Watzmann erfüllte ihre Herzen mit Feuer. Peter hat meiner Mutter später einen Dachsteinkalk aus der Watzmann-Ostwand mitgebracht. Davon handelt die Geschichte «Der Vorhang» in seinem Buch, die er meinem Vater gewidmet hat.

Mein Vater selbst hat den Watzmann nur in seinen Träumen gesehen. Er starb im Juli neunzehnhundertneunzig bei einem Autounfall mit gerade einmal zweiundvierzig Jahren. Sein Grab ist umrandet von Sandsteinen aus der Schweiz. Der Sächsischen Schweiz.

Wenn ich Schweiz höre, denke ich heute noch zuerst an diese, meine Schweiz. Die Schweiz meiner Kindheit. Und an meinen Vater.

Aber mittlerweile sehe ich Schokoriegel vor mir, wenn ich «Schweiz» höre, und das lächelnde Gesicht einer kleinen, herzlichen Frau. Einer Bloggerin. Und sehe kämpferische Worte einer anderen, nicht weniger herzlichen Schweizerin vor mir.

Die Schweiz meiner Kindheit hat mich gelehrt, was Freundschaft bedeutet. Und heute bin ich froh, Mitglied einer zum Teil schweizerischen Blog-«Seilschaft» zu sein.

Beides ist mir sehr kostbar.

6 thoughts on “Die Sächsische Schweiz von Nieselpriem

  1. Obwohl ich niemals Ähnliches erlebte, war ich gleich mit Stimmung dabei.
    Das ist so klasse geschrieben, dass man sich einfühlen kann, in diese feucht-kühle Geselligkeit innerhalb dieser "Boofen" und dann das Sommergewitter: Eines der Erlebnisse, über die man echt erst hinterher noch lange lacht und redet.

    Ich war einmal in Dresden, habe in Bautzen übernachtet und wollte echt gerne in die Sächsische Schweiz, wenigstens sie mal aus der Nähe sehen. Leider passte das nicht in den eng bemessenen Zeitplan meiner Reise.
    Vielleicht kann ich das irgendwann nachholen.
    Die schinante Rike wird mich dann dort sicherlich in Gedanken begleiten 😉

    Liebe Grüße von Lareine

  2. Auch wenn Wandern und Bergsteigen für mich persönlich die Albtraumvorstellung eines Urlaubes wäre, klingen deine Beschreibung nach einem riesengroßen Kindheitsabenteuer. Schön!

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