Mein Sohn, der Choleriker

Copperfield ist ein Choleriker. Bereits mit neun Monaten fing er an, lautstark zu toben, wenn ihm etwas nicht in den Kram passte. Das steigerte sich dann so um den 1. Geburtstag herum. Vor allem in Restaurants drehte er voll auf und schrie so laut, dass wir tadelnde Blicke von anderen Gästen zu spüren bekamen. Also keine Restaurantbesuche mehr für uns.

Wir bekamen es aber in den Griff durch konsequentes Handeln. Bis wir aber so weit waren, in ihm kein hilfloses Baby mehr zu sehen (diese Kinder sind ja so raffiniert mit ihrem süssen Auftreten!!), hat er gerne auch mal eine Stunde durchgebrüllt oder sich – theatralisch! – auf den Boden geworfen. Stets im Blick, ob jemand zuschaut. Und ich meine hier Brüllen bis zum Erbrechen. Zunächst waren wir ohnmächtig, weil wir das von LadyGaga her überhaupt nicht kannten. Hatte er Schmerzen? Das hat uns sehr beschäftigt. Aber der Kinderarzt gab Entwarnung: Bei Schmerzen würde ein Kind viel kuscheln wollen, anhänglich sein. Copperfield aber stiess sich in Rage von uns, wollte, dass wir weggehen, drehte den Kopf weg, warf sich auf den Boden, stampfte mit den Füssen wie Rumpelstilzchen.

Dsa war in Versailles im Oktober 2015 - volle Action war angesagt!
Dsa war in Versailles im Oktober 2015 – volle Action war angesagt!

Irgendwann haben wir realisiert: Der ist nur sauer. Wir haben ihm Hilfestellungen angeboten, aus seiner Wut herauszukommen, in der er offensichtlich gefangen war. Wir probierten, ihn abzulenken. Wir erklärten ihm die Situation. Nichts half. Bis wir ihn eines Tages in unserer Ohnmacht (und mit halbem Tinnitus) in die Abstellkammer stellten, bei Licht an und Türe offen. Er konnte also jederzeit raus und konnte uns auch sehen. Er brüllte und weinte. Wir sagten ihm, dass er wieder zu uns kommen könne, wenn er aufhöre zu schreien, aber dass es jetzt einfach genug sei und wir so nicht mehr weiter machen wollten. Unsere Nerven waren alle. Es funktionierte – nach wenigen Minuten stand der Junge sniefend, aber ruhig vor mir.

Seither geht es besser, er hört auf uns und tickt nicht mehr aus. Bis vor 10 Tagen.

Ausnahmezustand

Seit 10 Tagen dreht er wieder voll auf. Der Arme zahnt mit drei Backenzähnen gleichzeitig und lässt das alle deutlich spüren. Zunächst waren es sicher die Schmerzen. Irgendwann kam aber wieder der Punkt, wo wir merkten: Hey, er ist in alte Verhaltensmuster zurückgefallen. Er brüllt aus Wut. Und das seit Tagen gerne um 5 Uhr morgens. Die ganze Familie inklusiv LadyGaga geht auf dem Zahnfleisch. Wir sind keine Familie mehr, sondern eine Zombilie, weil der Nachtschlaf total aus dem Ruder gelaufen ist – für alle.

Unsere Kinder schlafen ja in eigenen Zimmern, aber wir haben versucht, Copperfield zu uns ins Bett zu nehmen, um ihm die Sicherheit zu geben, die er wohl gerade sehr braucht. Zwecklos. Ging nicht. Er schrie weiter.

Kommt dazu: Durch das Zahnen hat er einen Infekt, die Nase läuft, er hustet. Donnerstagnacht hat er Fieber entwickelt und wir haben nochmals versucht, ihn zu uns ins Bett zu nehmen. Diesmal klappte es, ich bin so froh! Wenn er sich nicht gerade schlafend im Wrestling-Style auf uns warf, war es eine ganz passable Nacht. Bis auf den Moment um halb sechs Uhr morgens, als ich merkte, dass LadyGaga aufs Klo ging. Da der kleine Bruder auf mir lag (mein Rücken….!), konnte ich nicht zu ihr gehen. Der Wecker klingelte um 6.30 Uhr, ich stand auf – LadyGaga war zu diesem Zeitpunkt in ihrem Zimmer bei hellem Licht und hörte CD. Ich fragte sie: «Hast Du denn nicht geschlafen?» Sie antwortete: «Nein, Du bist ja nicht wie sonst zu mir gekommen, um mir zu sagen, dass ich wieder ins Bett muss.» Gnaaaa!!

Aber nicht nur die Nächte sind hart. Copperfield brüllt wieder, wenn ihm etwas nicht passt. Mehr noch, er verweigert absichtlich zu jeder Gelegenheit die Kooperation, testet Grenzen aus. Beim Abendessen gestern schmierte er sich ein Stück Salatgurke in die Haare. Ich schaute ihn ermahnend an und sagte: «Copperfield, nimm die Gurke aus den Haaren.» Er blickte mich ernst an und drückte die Gurke demonstrativ tiefer in die Haare. Während ich noch überlegte, was ich tun sollte (ich bin ja so müde momentan!!! Das Hirn läuft nur auf Sparflamme), stand LadyGaga vom Tisch auf, ging zu ihm und klaubte die Gurke vehement aus seinen Händen. Der Kleine tobte. LadyGaga meinte nur trocken: «Copperfield, Du musst auf uns hören!»

Na also. Geht doch. Öhm.

Selbstreflexion

Beim Schreiben des Blogposts ist mir klar geworden, dass wir als Eltern eines bisher nicht so gut gemacht haben: mit Copperfield über SEINE Gefühle zu sprechen, um ihn zu spiegeln, im Sinne von: «Ich verstehe Deine Wut…» oder «Jetzt fühlst Du Dich so und so, nicht wahr?» Das kann dem Kind helfen, aus der Wutspirale rauszukommen. Bei LadyGaga haben wir das oft gemacht, was dazu geführt hat, dass sie schon früh ihre Gefühle sehr gut benennen konnte. Sie war aber nie eine Cholerikerin, die Situation war also eine ganz andere. Ich muss gestehen: Wenn ein Kind dermassen und kontinuerlich brüllt, wird das Hirn automatisch zu Matschsauce, da denkt man nicht über so etwas nach. Beim zweiten Kind merke ich zudem, dass wir Copperfield immer noch gerne als Baby behandeln, weil er halt «Der Kleine» ist. Das heisst man traut ihm automatisch weniger zu – ein Trugschluss, wie sich herausstellt. Also: auf zu Runde 3. Alles nur eine Phase, alles nur eine Phase, alles nur eine Phase.

Habt ihr auch so ein Exemplar zuhause und Tipps für mich im Umgang mit Choleriker-Kindern?

5 thoughts on “Mein Sohn, der Choleriker

  1. Nur ganz kurz in in Stichworten (hier sind alle krank und ich habe gar keine Zeit zum Computern…):

    Das hier: http://www.gewuenschtestes-wunschkind.de/2013/05/autonomiephase-trotzphase-warum-immer.html

    Von H. Karp: "Das glücklichste Kleinkind der Welt" (bei Goldmann)

    und von Giseala Storz: "Wut. Warum Kinder wild werden" (bei Beltz)

    und nicht vergessen: ohhhhmmmm!!

    P.S. Hast Du genug Schocki oder soll ich Dir schicken?

  2. Da bin ich ja beruhigt, dass es nicht nur uns so geht. Und wir hatten schon gedacht mit 1 (& schon davor) kann das doch noch gar nicht los gehen mit dem wütend werden. Ich sollte mich aber nicht so wundern, ich bin genauso und bin schnell auf 180, da ist es wohl keine so große Überraschung. 😀

  3. Ich rate zu dem Buch "Happiest Toddler on the block". Dort schildern sie auch, wie Eltern kleine Choleriker erreichen können UND die Gefühle ansprechen. Hat bei uns in der Trotzphase Wunder gewirkt

  4. So, jetzt noch die lange Antwort mit etwas mehr Zeit:

    Ergänzend zu den Buchtipps, die ich weiter oben gepostet habe vielleicht noch unsere eigenen Erfahrungen: Meiner hat ja viel für die Trotz-Weltmeisterschaft geübt. Was mir persönlich in solchen Situationen geholfen hat, war einerseits die Gedanken "ihm geht es dabei noch viel schlechter als mir" und "das ist nicht persönlich, das geht nicht gegen mich" (simpel, ich weiss). Andererseits habe ich mich oft einfach mit einer Armlänge Abstand neben ihn auf den Boden gelegt, damit er mit seinem Frust und seiner Wut nicht alleine war. Wenn er mich liess habe ich ihn fein gestreichelt, aber gar nicht versucht, mit ihm zu reden. Wenn das Gehirn sooooo überflutet ist mit Wut- und Stresshormonen dringt überhaupt nichts durch! Streicheln und sobald er mich liess, Trösten, das war unser Wundermittel bei Trotzanfällen.
    Und – nenn mich Feigling! – ich habe wenn immer möglich gewisse "Standardsituationen" vermieden von denen ich wusste, dass sie zwangsläufig zu Frustrationen führen mussten (Supermärkte!)

    Irgendwann wurden die Anfälle dann auch wieder weniger, und anders. Auch mit 6 kann er noch Wüten, aber heute gehen wir extrem souverän (*räusper*) damit um.

    Wenn Du nachlesen magst, habe ich auf meinem Blog einiges zum Stichwort Trotzdem geschrieben: http://mamahatjetztkeinezeit.ch/tag/trotzen/

  5. Wow, das kommt mir sehr bekannt vor wenn auch etwas abgewandelt. Wir haben das hier neuerdings regelmäßig mit Weinen. Unser Sohn ist sehr empfindlich und wenn es etwas stressig wird oder er wie aktuell Krank ist, dann weint, jammert und klagt er sich in Rage. Er leidet und nichts kann ihn mehr beruhigen.

    Nachdem wir das beim letzten Mal einige Tage mitgemacht haben (stundenlanges jammern und weinen, zum Ausrasten!) haben wir verzweifelt etwas neues ausprobiert. Mama hat sich aus dem Staub gemacht. Und siehe da, der Kleine war auf einmal ruhiger und tapferer. Er wurde dann auch schnell wieder Gesund, weil er eben nicht mehr nur noch im Drama Modus war.
    Nun ist es zwar recht schwer zu begreifen, dass man den Sohn auf Armlänge halten soll wenn es ihm nicht so gut geht aber erstaunlicherweise ist es das Einzige, dass ihm und uns hilft.
    Heute morgen ging es wieder genauso los und nach 3 Stunden war es einfach genug. Der Mann hat den Sohn geschnappt und ist mit ihm weggefahren. Sofort war Ruhe und er ist abgelenkt.

    Manchmal muss man wohl Wege gehen, die man vor den Kindern nicht für Möglich gehalten hätte.

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