Wir sollten unseren Kindern Flügel zum Fliegen geben

In letzter Zeit sehe ich LadyGaga oft an und denke erstaunt, wie gross sie doch geworden ist. Und zwar wirklich. Die Hosen sind alle zu kurz geworden, die T-Shirts auch. Ihr Gesicht sieht reifer aus. Natürlich ist sie immer noch ein Kind, aber irgendwas ist anders. In ihren Augen sehe ich ihre Intelligenz, ihren Witz, ihren Forschungsdrang. Und das begeistert mich.

Sie bockt extrem, gibt mir bei jeder Gelegenheit kontra. Sie reibt sich speziell an mir als Mama und Vorbild, will ihre Grenzen testen. Das ist sehr anstrengend. Immer wieder hört man den Begriff der Vorpubertät. Langsam zweifle ich aber an diesem Konzept bzw. dieser veralteten Einteilung. Sie besagt, dass es eine Pubertät gibt, und das, was wir erleben, ist wohl nur so die niedliche, harmlose Vorphase. I don’t know. Es fühlt sich nicht nach einer VORphase an, eher so nach Start. Mitten drin statt nur dabei. Wenn Mädchen und Jungs bewiesenermassen immer frühreifer werden, warum sollte dann die Pubertät immer noch erst mit der Geschlechtsreife beginnen? Für mich ist das keine Vor-, sondern eher eine Frühpubertät. In der Pubertät kann ein «Grund für die auftretenden Probleme zwischen Kind und Eltern […] die verbesserte Urteilsfähigkeit des Kindes sein, wodurch das Handeln der Eltern eher in Frage gestellt und kritisiert wird.» (Wikipedia). Aber holla die Waldfee, das kommt mir doch sehr bekannt vor!

LadyGaga ist eloquent und hobelt mich regelmässig argumentativ aus. Sie hinterfragt laufend unsere Entscheidungen. Dann kommt so was wie «Mami, ich habe einen Gegenvorschlag, den kannst Du nicht ausschlagen!» Sie ist empathisch, leidet und fühlt mit. Sie benennt ihre Gefühle. ICH. BIN. SO. WÜTEND!!, sagt sie zitternd vor Wut zu mir. Und kann sich dabei erklären, ihre Gedanken einordnen. Auf der anderen Seite brüllt sie mich an: Du bist doof. Du bist gemein! Du bist so hinterlässig (sie meint hinterhältig)! NEIN!!! Ich will nicht!!! Du bist so fies! Das einzige, was in der Beschimpfungspalette noch fehlt, ist das klassische «Ich hasse Dich!». Sind wir wirklich erst dann in der Pubertät angelangt? Ey, aber wenn ihre Socken kratzen, geht sie ab wie Schmidts Katze. Das Geschrei gleicht dem Lärm eines startenden Düsenjets (und könnte wohl nur von Copperfield getoppt werden). Diese Ambivalenz von Verständnis, Eloquenz, Humor und Verstand auf der einen Seite und Reklamieren, Kontern, Geschrei, Wut und hysterischem Geheul auf der anderen empfinde ich sehr stark als Pubertät, Alter hin oder her.

Ich anerkenne, dass sie älter wird. Reifer. Selbständiger. Heute durfte sie zum ersten Mal alleine im Dorf einkaufen gehen. Sie wünschte es sich so sehr. Und ich bin der Meinung, wenn sie sich das zutraut, sollte ich ihr die Flügel geben, damit sie fliegen kann. Mit pochendem Herzen und vielen Ermahnungen liess ich sie ziehen. Da sie noch nicht schreiben kann, sah ihre Einkaufsliste so aus:

oben: 2 Smoothies, 6 oder 8 Biberli (das ist Süssgebäck), 1 Zopf, unten: 1 Fruchtsaft für Copperfield, Wiener Würstchen
oben: 2 Smoothies, 6 oder 8 Biberli (das ist Süssgebäck), 1 Zopf,
unten: 1 Fruchtsaft für Copperfield, Wiener Würstchen

Sie war fort. Im 5-Minuten-Takt sah ich auf die Uhr. In mir krampfte sich alles zusammen. Nix Pubertät, MEIN BABY WAR WEG!!!! ALLEINE!!!! Wie saugefährlich. Wie doof von mir. Unverantwortlich!!! Wenn ich noch rauchen würde, das wäre der Moment für eine Zigarette gewesen. So aber tigerte ich mit Copperfield im Schlepptau unruhig vor dem Fenster hin und her und blickte immer wieder nervös auf die blöde Uhr. Sechs Minuten, zehn Minuten, 15, 23… traute ich ihr zu viel zu? Und wenn was passierte? Es gab Autos im Dorf. Und überhaupt, wenn…. NEIN!!! Alle Gedanken verdrängen, sie muss doch fliegen lernen, und nur mit meinem Vertrauen an der Seite kann sie selbstsicher genug sein, um weiter zu wachsen und zu gedeihen. Sie soll mutig sein, nicht ängstlich. Sie soll frei sein und stark.

Nach sechsunddreissig Minuten, einundvierzig Sekunden und zweihundertstel Sekunden war LadyGaga zuhause. Und platzte fast vor Stolz. «Ich fühle mich sooo toll, Mami. Ich habe das ganz alleine geschafft und war einkaufen. Ich war gut, oder? Bist Du stolz auf mich, Mami? Ich fühle mich so gross!»

Ja, mein Mamaherz ist vor Stolz fast geplatzt. Und hat vor Erleichterung, dass alles gut gegangen ist, ein paar Haarrisse gekriegt.

Mama sein bedeutet auch, aus Liebe zu den Kindern die eigenen Ängste hintenanzustellen, um die Kinder über sich selbst hinauswachsen zu sehen. Aber wie das dann später wird, wenn sie abends mit Freundinnen und mit Jungs ausgeht?! Buäähhh!!! Zum Glück sind wir noch in der Vorpubertät. Oder so.

Macht es euch auch so nervös, euren Kindern Selbständigkeit und eigene Abenteuer zuzugestehen?

3 thoughts on “Wir sollten unseren Kindern Flügel zum Fliegen geben

  1. Das ist so so toll, für beide Seiten! Bei uns kommt noch hinzu, dass mein Großer recht ängstlich ist und es für ihn und für mich immer ein großer Erfolg ist, wenn er sich mal traut, etwas allein im Geschäft zu bestellen (wenn ich draußen warte). Das sind auch so Herzmomente! Und wie die Augen dann leuchten!
    Liebe Grüße und viel Kraft für die Kämpfe 🙂

  2. Büebu ist soooo vorsichtig unterwegs, dass er wohl heute noch nicht selber essen würde, wenn wir ihm nicht im richtigen Moment ein "Schüpfli" geben würden. Er braucht sie, diese "Schüpfli". Aber wenns dann mal geklappt hat, ist er stolz wie Bolle.
    So sind sie alle verschieden, unsere Kurzen.

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