Salto Mortale Teil III

Und plötzlich brenne ich wieder lichterloh für meinen Roman, muss die ganze Zeit daran denken, welche Wendungen die Geschichte vielleicht nehmen wird. Ich höre den Tango von Roxanne in Dauerschleife und bin besessen von meinen Charakteren. Ich nehme euch mit.

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***


Endlich stiegen sie die Treppe zum Casino hinauf. Aus der Distanz hatte sie irgendwie grösser ausgesehen. Nun waren die acht Stufen im Nu erklommen. Ein Angestellter musterte sie eingehend, liess sie jedoch mit einem Wink passieren. Erleichtert atmete Amelia auf, schwebte regelrecht durch das Eingangsportal. Die Gedanken an Antonio verdrängte sie. „Ob wir wohl an einem Spieltisch Platz finden werden?“ Sie blickte Philipp von der Seite an und wartete auf eine Antwort. Er wirkte verdrossen und sagte kein Wort. Sie wiederholte ihre Frage, und er murmelte ein kaum hörbares „Vielleicht“. Es ging ihm wohl immer noch nicht besser. Ihr hatte das Erbrechen gut getan, sie fühlte sich erfrischt und belebt. Vielleicht gab es dafür aber auch einen ganz anderen Grund.

Amelia drehte sich von Philipp ab und schaute nach links, wohin der zweite Bedienstete oben auf der Treppe nach einem Blick auf ihre Tasche gezeigt hatte – Abgabepflicht für sämtliche Gegenstände. Befürchtete man, dass heimlich ein Roulette-Tisch eingepackt wurde? Amelia musste über ihren Gedankengang laut lachen, so dass Philipp sie verärgert anschaute. Er mochte keine lauten Geräusche. Sie spürte Wut in sich aufkommen, konnte sie jedoch noch rechtzeitig bändigen. Er mochte eben keine lauten Geräusche.

Nach Abgabe der Tasche konnten sie endlich in die grosse Eingangshalle eintreten. Amelia verschlug es den Atem. In der Mitte befand sich ein grosser Kronleuchter, der jedoch nicht wirklich den Saal erhellte, sondern einfach nur prächtig aussah. Der ganze Raum war rot aufgeladen und wirkte opulent. Eine Galerie säumte alle vier Seiten des Raumes und wurde von Säulen aus rosa Marmor getragen, so dass der Saal mit dem Kronleuchter zwei Stockwerke hoch war. Amelia sog Geschichte in sich auf, blickte zu Boden, um das Muster der Steine zu bewundern, dann liess sie ihren Blick die Details aufnehmen. Rechts waren Toiletten angeschrieben. Links schien der Eingang zum Spielraum zu sein, sie waren also nur in der Vorhalle, dem so genannten Atrium. ‚Du meine Güte, es scheint ja wirklich schwierig zu sein, hier endlich spielen zu können’, schoss es ihr durch den Kopf. Sie sagte nichts, spürte aber, wie Leben in sie einschoss. Adrenalin.

Philipp kam ihren weiteren Gedanken zuvor, ergriff ihren linken Oberarm. „Amelia, mir geht es immer noch nicht gut, ich muss nochmals dringend aufs Klo. Warte hier bitte so lange auf mich.“
Ohne eine Reaktion abzuwarten, drehte er sich um und verschwand aus ihrem Blickfeld.

Unschlüssig blieb sie alleine in der grossen Halle stehen, sah Menschen links und rechts an sich vorbeigehen und durch die Tür zur Spielhalle verschwinden. Sie wollte nicht einfach hier stehen und warten. Sie wollte nicht einfach dumm in der Gegend herumstehen, ein Überbleibsel sein, das jemand vergessen hatte. Sie wollte, musste sogar dringend ins Casino, denn sie verspürte einen ihr unbekannten Spieldrang. Nur das konnte sie von Antonio ablenken.

Hatte sie sich vorhin den Mund wirklich gut ausgespült? Sie fühlte etwas Saures in sich hochkommen. Anstatt zu warten, konnte sie ebenso gut noch schnell auf die Toilette gehen. Philipp würde garantiert länger benötigen, so gut kannte sie ihn mittlerweile.

Also ging auch Amelia nach rechts und öffnete die Tür, welche die Damentoiletten verbarg. Der Raum schien leer zu sein. Erleichtert lief sie zum Waschbecken, um sich nochmals mit Wasser abzukühlen. Das kalte Nass tat ihr gut, sie atmete befreit auf.

Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie sich die Türe hinter ihr öffnete. „Habe ich Dir gefehlt?“

Sie erstarrte in der Bewegung, dann wirbelte sie auf dem Absatz herum. Antonio stand vor ihr und versperrte ihr ganz offensichtlich den Weg nach aussen, indem er sich lässig an die Tür lehnte. Ihr Herz bebte.

„Antonio, was tust Du hier? Ich dachte, Du seiest fort.“

Sie war verwirrt. Verwirrt, weil sie sich freute, ihm nochmals gegenüber zu stehen. Ihrem Selbstwertgefühl hatte sein Verschwinden nicht gut getan. Aber warum musste es immer die Toilette sein? Unvermittelt und mit schnellen Schritten trat Antonio auf sie zu, musterte sie intensiv von oben bis unten. Dann sagte er: „Ich habe Dir doch gesagt, dass Du mir gefällst.“ In einer einzigen Bewegung zog er sie an sich.

Sie wehrte sich nicht, als er seine Lippen auf die ihren drückte.

Sie hatte erwartet, dass die Berührung hart sein würde, doch das war sie nicht. Sie spürte die Weichheit seiner Lippen, seine Zunge, die sich langsam und warm, behutsam in sie schlängelte. Und sie fühlte in sich heisse Flammen auflodern, ihr Herz raste, brannte lichterloh. Begierig erwiderte sie seinen Kuss, krallte sich unvermittelt in seinen Körper, dessen dunkle Härchen zu Berge standen. Sie war wie von Sinnen und gab sich ganz diesem Kuss hin, der nach süssen Trauben schmeckte, nach dem Leben selbst. Es gab nur diesen einen Moment.

Dann erinnerte sie sich.

Amelia stiess ihn mit aller Kraft, die sie noch aufbringen konnte, von sich. „Lass mich. Lass das.“ Zitternd wischte sie sich mit der Hand über den Mund. Alles in ihr war in Aufruhr.

Antonio stemmte die Hände in die Hüften. Dann unterbrach er das Schweigen: „Willst Du wirklich mit diesem Spiesser zusammen sein?“ Er spie die Worte aus. „Ich habe euch beobachtet, auch nach unserer Begegnung, als ihr gegessen habt. Er weiss nicht, was Liebe ist. Liebe ist Hingabe, so wie Du Dich gerade mir, diesem Kuss hingegeben hast. Lass mich in Dein Herz, riskiere es, und ich werde Dir zeigen, was Leben heisst.“ Leidenschaft loderte in jedem seiner Worte.

Sie wandte sich von ihm ab, spürte Tränen in sich aufsteigen. Philipp wusste nicht, was Liebe hiess? Wie konnte er das nur behaupten? Aber vielleicht wusste er es wirklich nicht, denn in letzter Zeit verweigerte er allzu oft jede Art der Zärtlichkeit; sie hatte es auf sich bezogen. Amelia war unschlüssig, doch die rationale Seite in ihr oblag. „Antonio, ich kann nicht, Du wohnst in Mailand, ich in Zürich, wie sollte das funktionieren?“

Eine kleine, rundliche Frau kam aus einer der Kabinen. Sie waren nicht alleine gewesen. Die Frau musterte Antonio, schüttelte dann den Kopf. „Europäer“, murmelte sie im breiten Amerikanisch. Dann ging sie hinaus, ohne sich die Hände gewaschen zu haben.

Antonio rührte sich nicht. Er stand immer noch mit den Händen an der Hüfte vor ihr, liess seinen Blick nicht von ihr. „Amelia, hör gut zu. Volere – potere. Wer will, der kann auch. Amelia, ich bin bereit, mich auf dieses Abenteuer einzulassen, wenn…“ – „Amelia, bist Du da drin?“ Philipps Stimme brach den Bann, unter dem Amelia stand. Ihre Augen begannen zu flackern und sie schnappte nach Luft. Philipp rief nach ihr und konnte jeden Augenblick den Raum betreten. Auf keinen Fall aber wollte sie, dass er sie zusammen mit Antonio ertappte. Ihre Lippen brannten und sie spürte die Hitze immer noch in ihren Lenden.

„Ich kann nicht mehr klar denken, Antonio. Ich bin verwirrt. Gib mir Deine Telefonnummer, ich werde mich bei Dir melden. ICH KOMME, PHILIPP!“

„Wirklich?“ Antonios Gesicht hellte sich auf.

„Ja. Ja! Nur mach schnell, ich muss gehen.“ Sie reichte ihm ihr Handy, damit er seine Nummer darauf speichern konnte. „Und Du rufst mich wirklich an? Du musst das Leben geniessen und etwas riskieren, nur so kannst Du gewinnen. Nur wer loslässt, gewinnt.“

Nachdem er seine Nummer gespeichert hatte, nahm sie ihm hastig das Smartphone aus der Hand. Bei der Berührung ihrer Hände zuckte sie wie von einem Stromschlag getroffen zusammen. Antonio bemerkte es und hielt ihre Hand fest. „Ich spüre das Gleiche wie Du.“ Er verringerte den Abstand zwischen ihren Körpern, strich ihr langsam mit der Hand über die Wange – und küsste sie erneut.

„Lass mich gehen“, flüsterte sie mit brüchiger Stimme.

Er löste sich von ihr und machte einen Schritt zurück. Amelia schnappte nach Luft wie eine Ertrinkende, atmete tief durch. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und verliess den Raum.

Philipp stand draussen mit dem Rücken zu ihr. Sie trat zu ihm und hauchte ihm geistesabwesend einen Kuss auf die Wange. „Bitte entschuldige. Hast Du lange auf mich gewartet?“ Sie spürte immer noch die Flammen in sich lodern und versuchte verzweifelt, die Gedanken an Antonio abzuschütteln, doch es gelang ihr nicht. Sie hatte seinen Geruch auf den Lippen, und ihre Lenden brannten. Wie er sie geküsst hatte, wild, hemmungslos. Begierig und lüstern zugleich. Ihr Herz raste beim Gedanken an diesen verheissungsvollen Kuss und sie war sicher, dass Philipp ihre Gedanken erraten konnte, dass er es ihr am Gesicht ansah, dass sie nicht an ihn dachte. Sie senkte den Blick.

Philipp nahm sie an der Hand und führte sie wortlos quer durch den Saal. Sie liefen unter dem Kronleuchter durch. Auf einer Tür am anderen Ende des Raums war eine Plakette angebracht. „Spielhalle“ stand auf Französisch darauf. Zwei Damen mittleren Alters standen bei einem Tresen davor. „10 Euro Eintrittsgeld? Denen hackt es wohl!“, entrüstete sich Philipp lautstark, während er nach der Briefbörse griff. Er bezahlte seinen Eintritt und wartete darauf, dass Amelia es ihm gleich tat. „Können Sie uns bitte noch einen Ausweis zeigen?“, fragte eine der Damen mit auftoupierten Haaren. Widerwillig zeigte Amelia ihre Identitätskarte. Sie liess sich nicht gerne kontrollieren. Die Angestellte überprüfte ihre Karten und gab sie den beiden zurück. „Sie können hineingehen, Madame, Monsieur, Sie sind nicht registriert.“

Kunststück. Dies war ihr erster Besuch in einem Casino, wo sollte sie also registriert sein? Sie betrat vor Philipp die Spielhalle und linste über seine Schulter hinweg zurück in die Vorhalle. Dort stand Antonio an eine der Säulen gelehnt. Sie konnte seinen Blick nicht deuten. War er düster? Sie streckte den Hals, um ihn besser zu sehen, die Ankunft einer grossen Gruppe Asiaten verhinderte aber die weitere Sicht auf ihn.

Die Türe schloss sich.

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