Ich hatte einmal einen besten Freund. Wir lernten uns kennen, als ich ungefähr 15 war. Er war verliebt in mich, das wusste ich. Für mich war er all die Jahre wie ein Bruder, und das akzeptierte er. Ich ging Beziehungen zu anderen Männern ein, die Freundschaft zu ihm blieb immer bestehen. Wann immer ich ihn brauchte, war er da für mich. Irgendwann wurde er zu einem erweiterten Teil unserer Familie. Er war wie ein zweiter Sohn für meine Mutter.
Er war ganz anders als ich. Ich bin wohlbehütet aufgewachsen, er nicht. Seine politischen Ansichten waren den meinen total fremd. Er hasste den Staat, hinterzog Steuern. Er war sonst aber nicht kriminell, sondern ein aufrechter Mensch. Er arbeitete für sein Geld. Er war der liebste Freund und mir sehr nahe. Aber ich liebte ihn nie als Mann.
Irgendwann gab es einen Riesenstreit. Ich weiss auch warum, aber das geht nur uns beide etwas an.
Es gab kein Lebwohl, kein gar nichts. Es war vorbei. Meinen Mann lernte er nie kennen. Einige Jahre später lud ich ihn zu meiner Hochzeit ein. Es sollte ein Versöhnungsangebot sein. Auf unserem damaligen Hochzeitsblog (gibt es nicht mehr) gab es einen anonymen, gehässigen Kommentar, den ich ihm zuordnen kann. Im Prinzip verstehe ich ihn ja. auch wenn ich ihn mit der Einladung wirklich nicht verletzen wollte. Wieder einige Jahre später kam ein Anruf des Steueramts – ob ich wisse, wo der Herr X wohne? Sie waren ihm auf die Schliche gekommen. Ich wusste und weiss nicht, wo er wohnt, denn er brach seine Zelte vor langer Zeit schon ab.
Was aus ihm geworden ist
Heute musste ich während einer längeren Autofahrt plötzlich an ihn denken. Ob er mittlerweile schon einmal im Gefängnis gesessen hat? Zuzutrauen wäre es ihm. Was macht er heute, wo steht er jetzt? Ach, was stelle ich mir alle diese Fragen mit 40. Vielleicht ist er ja auch schon tot, oder glücklich verheiratet und hat Kinder.
Ich google ihn. Und finde völlig unerwartet ein Foto von ihm auf einem Social-Media-Portal, mit Kippe in der Hand und einem ungemütlichen Blick. Das Bild stösst mich ab und macht mich traurig. Wo ist der fröhliche Typ geblieben, mit dem ich Pferde stehlen konnte? Was ist aus seinem Leben geworden, nachdem sich unsere Wege getrennt haben? Und warum war ich nicht da? Er wirkt verhärmt.
Ich grüble. Wir wissen nie, ob es gut oder schlecht ist, wenn jemand unser Leben verlässt. Und: Für wen ist es schlechter/besser? Ist der andere glücklicher ohne mich, so wie mein Exfreund, der geschätzte 30 Kilo schwerer immer verliebte Fotos Arm in Arm mit seiner Frau auf Facebook postet? In meiner Erinnerung aber sehen die Menschen immer noch gleich aus wie damals, als sich unsere Wege trennten. Könnt ihr euch meinen Schock vorstellen, als ich einen anderen Exfreund googelte (ja, ich tue so etwas manchmal) und plötzlich ein aktuelles Bild von ihm entdeckte, komplett ergraut, mit Vollbart und beleibt und meinem französischen Onkel sehr ähnlich? Er war damals (also vor rund 20 Jahren, wahh!) Fahrradkurier und durchtrainiert. Und jetzt ist er soooo alt! Und ich – ich wohl auch.
Ich mache mir viele Gedanken über die Vergangenheit, erinnere mich einem Déjà-vu gleich unkoordiniert und ungeplant an frühere Erlebnisse, Emotionen, Gerüche und auch Gedanken. Das muss das Alter(n) sein…. Und wenn ich dann die Erinnerungen quasi mit Google abgleichen will, merke ich, dass Erinnerung und Realität nicht mehr kompatibel sind. Die Leute haben sich weiter entwickelt, so wie ich ja auch. Wie viele Menschen sind schon tot, die ich einmal gekannt oder sogar geliebt habe? Wer hegt noch Erinnerungen an mich, so wie ich die meinen an sie hege? Und: Bei wem habe ich Spuren hinterlassen, wenn ich einmal gegangen sein werde?
Was Gott damit zu tun hat
Ich publizierte am 1. Januar 2017 hier auf dem Blog meine Bucket List mit Wünschen für die Zukunft. Als Punkt 77 notierte ich „Wieder an Gott glauben“. Vor einigen Wochen schrieb mir ein Pastor eine Mail, dass er im Internet beim Vorbereiten einer Predigt auf meinen Blog und diese Bucket List gestossen sei und dass ihn mein Punkt 77 sehr nachdenklich gemacht habe. Das Mail hat mich sehr berührt.
Er schickte mir einen Link zu einer Audiodatei seiner Predigt, in der es darum ging, wie wir ein erfülltes Leben haben können und wie uns der Glaube an Gott dabei helfen kann. Und was soll ich sagen – ich kam darin anonym vor. Mir gefiel seine Metapher des Lebens als Kioskladen, in dem man sich etwas kaufen will, aber nur wenig Geld dabei hat. Und anstatt eine Bucket List mit meist materiellen Wünschen zu führen, solle man vielmehr in Gott den Ladenbesitzer sehen, der sagt: „Vertrau mir Dein Geld an, vertraue mir, dass ich Dir das für Dich richtige aus dem Kiosk geben werde.“
Ich werde weiterhin eine Bucket List führen, denn ich finde es schön und erstrebenswert, Ziele (und Träume) zu haben, wie auch immer sie gewichtet sind. Es macht mich lebendig und agil. Aber ich kann sehr viel mit dem Bild des Kioskbesitzers anfangen: Glaube hat etwas mit Vertrauen zu tun, dafür kann es keinen Beweis geben. Nur durch Vertrauen wird der Glaube manifest.
Und so möchte ich darauf vertrauen, dass alle Begegnungen aus der Vergangenheit und auch die zukünftigen ihre Fussspuren in mir hinterlassen und mich bereichern – weil sie mich ausmachen. Manchmal trennen sich unsere Wege, auch wenn sich uns die Gründe dafür nicht immer erschliessen mögen – Gott kennt sie. An Gott zu glauben heisst auch, darauf zu vertrauen, dass alles seine Richtigkeit hat im Leben. Und das tue ich. Meine Spuren hinterlasse ich bei jedem einzelnen von euch. Und sei es auch nur als Momentaufnahme.
Zuerst musste ich schmunzeln, jetzt weine ich fast. Sehr schön geschrieben!
Liebe Grüsse
Awwwh, was für tolle Zeilen <3 <3 <3