Es ist wieder passiert. Ich habe den Horror aller Eltern erlebt. Pünktlich um 12:00 Uhr Mittag stand meine Tochter vor der Tür – nicht aber mein Sohn. Ich hatte bereits gekocht, das Essen wartete auf dem Tisch. Warum musste Copperfield auch immer so herumtrödeln?! Da die Kinder sich oft streiten auf dem Schulweg, erlaube ich ihnen mittlerweile, jeweils individuell zu gehen. Schliesslich ist der Weg keine 10 Minuten lang. Und ja, in der Schweiz ist es Usus, dass die Kinder alleine in die Schule und zurück gehen.
Item.
Copperfield war nicht da. Da er aber weiss, dass er nach der Vorschule jeweils nach Hause kommen muss, ging ich davon aus, dass er jeden Moment kommen würde. Bisher hat das immer geklappt.
Szenen eines Horrorfilms
LadyGaga und ich setzen uns an den Tisch und beginnen mit dem Mittagessen. Die Minuten vergehen. Und vergehen. Und vergehen. Langsam werde ich doch nervös. Ich denke daran, wie es war, als LadyGaga zu ihrer Vorschulzeit plötzlich «verloren gegangen» war. Oder wie eine befreundete Mutter mich eines Tages anrief, weil LadyGaga bei ihr vor der Tür stand und meinte, sie wolle jetzt bei ihrer Freundin und deren Mutter zu Hause essen.
Langsam legt sich ein Schatten über mich. Bestimmt wird Copperfield gleich nach Hause kommen. Ganz bestimmt. Tut er aber nicht. Er ist schon über 30 Minuten zu spät.
LadyGaga lässt ihren Teller stehen. Sie läuft zur Strasse um zu sehen, ob sie ihren Bruder auf dem Weg findet. Kein Chindsgi-Kind zu sehen. Mir wird klamm und ich schicke meine Tochter ins Haus und setze mich ins Auto. Langsam fahre ich den Schulweg ab. Einmal. Zweimal. Kein einziges Kind ist zu sehen. Alle Kinder sind zu Hause, nur meines nicht. Ich fahre zur Vorschule. Auch dort ist kein Kind. Das Grauen legt sich über mich. Das Dorf ist wie ausgestorben.
Ich bekomme keine Luft mehr, meine Sicht vernebelt sich. Nirgends ist mein Sohn zu sehen. Er ist wie vom Erdboden verschluckt, was soll ich also tun? Die Polizei anrufen? Meinen Mann? Kita, Lehrerin, das halbe Dorf? Wo kann er bloss sein. Ich suche in meiner Handtasche nach meinem Handy. In meiner Panik habe ich es zu Hause vergessen, na bravo. Zitternd fahre ich zurück nach Hause. Man, es fällt mir so schwer, nicht komplett hysterisch die Kontrolle über das Auto zu verlieren. WO IST MEIN KIND?!?!?
Auflösung
Plötzlich entdecke ich auf dem Weg meine Tochter, die auf dem Kick-Board unterwegs ist, offensichtlich auf der Suche nach mir. Ich halte an und öffne das Fenster. «Er ist zuhause, Mami, gerade als du aus dem Haus bist, war er da.» Ich nicke nur. Als ich die Fensterscheibe wieder hochfahren lasse, entgleitet meinen Lippen nur Gebrabbel in einer nicht verständlichen Sprache. Mein Gehirn ist total überfordert.
Ich mache zu Hause zittrig die Tür auf. Mein Sohn sitzt grinsend am Tisch und isst. So viel sei gesagt: Er hat nicht mehr lange gegrinst. Wo er gewesen ist? Er hat Pokémon Karten mit älteren Schulkindern getauscht und darüber die Zeit vergessen. Auf dem Nachhauseweg habe ich ihn dann übersehen, weil er über die Zufahrt der Nachbarn in unseren Garten geklettert ist und erst dann zur Haustür kam.
Er ist der Zweitgeborene, ich kenne solche Situationen also schon, wie ich auch hier schon beschrieben habe, aber ganz ehrlich, es wird auch beim zweiten Kind und mit der Erfahrung nicht besser. Wir geben unseren Kindern Wurzeln und Flügel und werden dabei selber gerupft wie die Hühner. «Mein Herz!», möchte ich rufen. Mein Herz, mein Herz, mein Herz. Besser kann ich nicht beschreiben, wie ich mich gerade fühle.
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