Unter dem Radar

Man will seine Kinder immer gleich behandeln. Fair ist fair. Doch seien wir ehrlich: Dieses Bedürfnis nach Gleichberechtigung mag ja schön sein, aber es spiegelt nicht die Realität wider. Copperfield als Zweitgeborener läuft bei uns nämlich absolut unter dem Radar. Ein paar Fakten:

Hausaufgaben

Während ich bei LadyGaga als Erstklässlerin stetig kontrolliert habe, dass die Hausaufgaben korrekt und bei Zeiten ausgeführt wurden, vertraue ich bei Copperfield darauf, dass er das «mit etwas Hilfe wo nötig schon schafft». Ich lasse ihn mit Freunden spielen, auch wenn die Hausaufgaben noch nicht erledigt sind. Ich kontrolliere zwar, mache aber kein Fass auf. Bei LadyGaga wäre das undenkbar gewesen, viel zu wichtig war es mir, dass sie von Anfang an gut in der Schule ist. Und Copperfield? Rechnet uns zwar gerne an die Wand, aber lesen findet er nicht so toll. Der Kompromiss ist nun, dass er bei seinen Pokémon-Games die Texte zwischen den Spielsequenzen jeweils lesen muss. Ein solcher Kompromiss war bei LadyGaga undenkbar, die Harry Potter erst schauen durfte, nachdem wir das erste Buch gemeinsam gelesen hatten.

Zähne putzen

Ihr ahnt es: Bei LadyGaga haben wir bis sie etwa acht Jahre alt war jeden Abend ihre Zähne nachgeputzt. Bei Copperfield geht das irgendwie immer unter. Da ich nun aber festgestellt habe, dass er mich oft anschummelt, wenn er empört sagt: «Natürlich habe ich die Zähne geputzt, Mami!», werden wir in Zukunft wieder strenger sein. Ich glaube, wir sind einfach alle sehr müde und mürbe geworden. Und Copperfield fliegt unter dem Radar eben einfach mit.

Instrument spielen

Yep. Auch hier: LadyGaga musste viel mehr Klarinette üben als Copperfield in den vergangenen Monaten die Ukulele in Händen gehalten hat. Erst seit ein paar Wochen insistieren wir, dass er mehr üben muss. Aber wie schwierig ist es doch, ein Kind beim Üben zu begleiten, wenn man selbst keine Ahnung hat, wie so ein Seiteninstrument funktioniert. Bei der Klarinette kann ich LadyGaga zumindest konkret zeigen, was sie machen muss. Bei Copperfield kann ich nur das Gesicht verziehen und sagen: «Also DIESER Ton ist definitiv falsch.» Das ist ja auch nicht gerade motivierend für das Kind.

Zwei Kinder, eines davon ist gerne unter meinem Eltern-Radar unterwegs – Photo by Simon Fitall on Unsplash

Unter dem Radar einfach «auch noch» da?

Die Aufzählung liesse sich beliebig erweitern. Ich liebe keines meiner Kinder mehr als das andere. Ich schimpfe auch mit beiden (fast) gleich und bin für beide gleich da. Und doch ist der Zweitgeborene derjenige, der immer einfach mitläuft, weil die Kraft aufgebraucht ist bzw. der Kopf einfach Platz für anderes braucht. Am Wochenende waren wir auf einem Foxtrail in Luzern [Link: unbezahlte Werbung]. Und als Copperfield einen Hinweis entdeckte, wollte er geradewegs über die Kreuzung stürmen, ohne nach rechts oder links zu schauen. Mein Mann konnte ihn gerade noch beherzt an der Jacke packen, bevor er von einem Auto erfasst wurde. Mein Herz, mein Herz! LadyGaga haben wir wohl eher überbehütet, so dass sie heute sehr vorsichtig bis übervorsichtig ist. Copperfield lassen wir gewähren – und er ist eindeutig der Lemming der Familie. Eine Logik erschliesst sich mir hier nicht. Vielleicht darf er als Zweitgeborener eher ausprobieren, mutig sein? Man sagt ja immer, dass die Erstgeborenen hart für die Rechte der Zweitgeborenen kämpfen müssen.

Ich habe ein schlechtes Gewissen, beiden Kindern gegenüber. Dann denke ich wieder: Copperfield lernt einfach auf andere Weise, wie er in seinem Leben/im Beruf zum Ziel kommt, während LadyGagas Ehrgeiz und Disziplin sie weit bringen werden. Zudem: Das kann sich ja alles auch wieder ändern.

Ich bin selbst die Zweitgeborene

Dieser These widerspricht aber mein eigener Hintergrund: Ich bin selbst das zweite Kind, und ich lief nie unter dem Radar – vielleicht, weil ich und mein Bruder ganze sieben Jahre Altersunterschied haben? Ich war schon immer ehrgeizig und erfolgsgetrieben und diszipliniert, Zweitgeborene hin oder her. Vielleicht hat LadyGaga also einfach meinen Charakter? Dass aber der schelmische Copperfield davon profitiert, dass wir zwischen Pandemie, Homeoffice und Schule zu müde sind, um ihn zu kontrollieren, ist unbestritten. Vielleicht muss ich mir also doch einfach eingestehen, dass ich etwas falsch gemacht habe. Oder kennt ihr das auch so?

Wie ist das bei euch, wart ihr beim ersten Kind auch strenger als bei den weiteren?

5 thoughts on “Unter dem Radar

  1. Meine Kinder sind, wie Du weißt, schon etwas älter, und doch lief das hier ähnlich. Ich war bei der Älteren deutlich strenger und bin auch heute noch – sie wird bald 18 – näher an ihr dran. Nach der Lektüre Deines Textes bin ich mir aber sicher, dass es wirklich eine Charakterfrage ist. Die Ältere ist mir ähnlicher, sie eifert mir auch nach. Die Jüngere ist anders drauf, sie kam schon immer gut und lange alleine klar, die Ältere weniger, sie brauchte immer, wirklich immer Gesellschaft. Die Interessen der Mädchen sind einfach unterschiedlich. Die Große und ich haben ein gemeinsames Hobby, so ergibt sich das natürlich eine größere Nähe.
    Lange Rede, kurzer Sinn: Ich glaube, dass wir kein schlechtes Gewissen haben müssen. Jedes Kind ist anders und holt sich letztlich das, was es braucht – wir sind ja da! Also: Feel you! Und: Du machst das schon richtig! 🙂 Liebe Grüße aus Köln!

    1. Liebe Britt, wie ich mich über Deinen Kommentar freue, Du hast mir gefehlt! Es ist so schön, von Dir gelesen zu werden, und Deine Worte beruhigen mich ein wenig. Es ist wohl in der Tat so: Die Kinder nehmen sich im Endeffekt, was sie brauchen. Aber es ist schon erstaunlich, wie sehr ein sehr geliebtes Kind komplett unter dem Radar fliegen kann. Ich staune selbst ob dieser Erkenntnis.

  2. Ich glaube auch es ist eher eine Charakterfrage. K1 (knapp 7j) wird von uns auch recht viel kontrolliert, ist aber auch einfach oft unkonzentriert und lässt sich sooo leicht ablenken. K2 (4,5j) ist ein total anderer Typ Mensch und was bei K3 (2j) noch auf uns zukommt werden wir sehen…
    Und ja, K3 hat mehr Freiheiten, wird weniger kontrolliert. Dafür muss er häufig auch einfach „mitlaufen“ und die Freizeitaktivitäten sind bisher eher auf die grossen zwei angepasst. Ich bin auch ein K3, mein Mann ein K1 (von 3)… schlussendlich findet jedes unserer Kinder seinen Weg, davon bin ich (meistens) überzeugt.

    1. Liebe Luzia,
      Stimmt, bei uns ist es auch so, dass Copperfield halt einfach machen muss, was LadyGaga will bzw. was zu ihrem Programm passt. Es ist beruhigend zu wissen, dass alle „K“s ihren Weg machen, egal welche Nummer sie haben 😉
      GLG
      Séverine

  3. Bei uns ist es genauso. Bei meiner Tochter war ich bei allem sehr viel mehr hinterher als beim jüngeren Sohn. Ich sehe es aber nicht so, dass der Jüngere unterm Radar mitläuft, sondern dass es bei der Großen möglicherweise too much war/ist. Ich hätte gerne bei ihr schon das Wissen von heute gehabt. Das hätte vieles etwas leichter gemacht und viel Anstrengung und Stress rausgenommen.
    Davon hat der Jüngere definitiv profitiert.
    VG
    Anni

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