Die vier Phasen eines Tobsuchtsanfalls

Eines meiner Kinder hat eine ausgesprochen kurze Lunte. Ich sag nur: Hormone! Nun bin ich nach über 11 Jahren Mama sein auch schon ein bisschen abgehärtet und kenne meine Schäfchen äh Kinder. Aber was mir da fast täglich als geballte Ladung an Emotion entgegenschwappt, ist schon heftig und geht auch schon mal an die Substanz. Vorpubertät, Pubertät, sturer Grind (man kann es auch «Charakter» nennen) – you name it. Ich als Mama bin Reibungsfläche für so vieles, was im Kopf meiner Kinder vor sich geht. Die Gründe für einen Tobsuchtsanfall sind mannigfaltig und beliebig kombinierbar: schlechte Laune, emotionaler Stress in der Schule, wir Eltern wollen etwas bestimmtes, spuren nicht wie gewünscht oder etwas verläuft nicht nach Plan, man fühlt sich gegenüber dem Geschwister benachteiligt oder aber – einfach so.

Ganz besonders heftig ist es, wenn seitens Kind die vier Phasen der nahenden Explosion initialisiert werden. 4, 3, 2, 1 – ignition! Das ist dann für mich, als würde ich einem Unfall zusehen, ohne etwas dagegen tun zu können.

Die vier Phasen des Tobsuchtsanfalls – Foto by TannerArt

Phasen 1-4

Phase 1: Hrmpf. Irgendwie bin ich sauer, ich weiss aber selber nicht so genau, wieso überhaupt.

Phase 2: Mama merkt es einfach nicht, dass etwas mit mir nicht stimmt. Gopferklemmi, ich schau mal hässig und stehe beleidigt in der Gegend herum, das hilft ihr sicher beim Erkennen. Wieso ignoriert sie mich? Das ist so fies.

Phase 3: Hey, warum hilft Mama mir immer noch nicht?! Sie redet freundlich zu mir. Als wäre ich ein Baby! Ich bin doch hässig! Sie redet mit mir, aber was sie sagt, passt mir nicht. Ehrlich gesagt ist es egal, was sie sagt, ich bin trotzdem hässig, aber das sage ich ihr nicht. Ich presse die Lippen aufeinander, das hilft vielleicht. Warum bin ich eigentlich so sauer?

Phase 4: Mama sagt, ich solle nicht so aggressiv sein, so könne sie mir nicht helfen. ABER! ICH!!!! BIN!! NICHT!!! AGGRESSIV!!!!!!

**** BOOM ****

Der Tobsuchtsanfall als Lernwiese

Ich habe keine Lösung für dieses Wutdilemma. Heute Kind zu sein, ist ziemlich hart. Es war schon immer hart. Wir verlangen von unseren Kindern viel mehr, als zu unserer Jugend von uns gefordert wurde. Gleichzeitig aber haben sie viel mehr Freiheiten als wir jemals hatten.
Was ich gemerkt habe: Ob ich als Mama bei einem Wutanfall oder bei aggressivem Verhalten seitens Kind ruhig bleibe oder ausflippe – das Resultat ist meist dasselbe:

**** BOOM ****

Es geht nämlich nur sehr, sehr selten um die Sache. Es geht immer um das:

**** BOOM ****

Nach dem obligatorischen BOOM nämlich ist alles ganz wunderbar. Wir können über das Geschehene diskutieren und Selbstreflexion üben. Der Weg dahin ist aber zäh und lässt sich auch nicht abkürzen, es braucht offenbar diese vier Phasen. Alles schon probiert, es nützt nix.

Was ich mit Trial-and-error gelernt habe: Bleibe ich ruhig, lasse ich das Ganze nicht an mich heran und bin selbst geschützt. Explodiere ich ebenfalls, ist der Tag nachher für beide Parteien gelaufen. Also rede ich ruhig mit dem Kind und verinnerliche, dass es das Recht hat, seine Gefühle zu äussern. Ich bin da, um die Gefühle (und das Kind!) aufzufangen. Und hey, manchmal funktioniert das sogar! Manchmal braucht das Kind aber auch, dass man als Eltern ausflippt („Stop, hier ist MEINE Grenze!“), damit die eigene Emotion als Wutausbruch mit Weinen und Schreien kanalisiert werden kann. So erlebe zumindest ich es, denn ich lese ehrlich gesagt keine Erziehungsratgeber.

Trotzanfall bei Erwachsenen

Interessant finde ich aktuell, dass diese Ausnahmesituationen mit den Kindern mir offenbar auch im Berufsleben etwas bringen. Vor kurzem hatte ich beruflich eine sehr unangenehme Situation zu meistern. Mein Gegenüber verhielt sich analog zu den vier genannten Phasen des Tobsuchtsanfalls meiner Kinder. Ich war die Projektionsfläche für die ganze Wut dieser Person. Ich suchte das klärende Gespräch – das war nicht gewünscht und wurde trotzartig verweigert. Ich denke, ich hätte danach wirklich sagen können, was ich wollte – es hätte nichts gebracht. Also liess ich es dabei bleiben. Nun ist ein Scherbenhaufen übriggeblieben. Ich finde, wie in einer Familie hat auch beruflich bei mir jeder das Recht, seine Gefühle zu äussern. Man darf auch unterschiedlicher Auffassung sein zu einem Problem. Man darf mich Scheisse finden (sowohl als Mama wie auch als Chefin). Das ändert nichts daran, wer ich bin und was ich bin. Aber anders als bei meinen Kindern setze ich bei einem Erwachsenen ein gewisses Mass an Streit- und Diskussionfähigkeit voraus. Deshalb ist es mir so wichtig, meinen Kindern eine gesunde Streitkultur beizubringen. Tobsuchtsanfälle bringen’s voll!

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