Mein Monument für dich – deine letzten Tage

[Triggerwarnung Tod]

3.50 Uhr. Das Telefon klingelt. Sofort sitze ich senkrecht im Bett. Mein Bruder schläft im Zimmer nebenan und nimmt den Anruf entgegen. So hatten wir es abgemacht. Es klopft leise an der Tür, mein Bruder tritt ein und nickt mir mit ernstem Blick zu. Es ist der 18. Juli 2021. Unser Vater ist tot.

Letzter Austausch

Völlig übereilt sind wir angereist, eigentlich sollten es unsere Sommerferien sein. Es wurde unser Abschied. Im Büro habe ich von einem Moment auf den anderen alles stehen und liegen gelassen. Diese Angst, dich nicht mehr lebend zu sehen, mich nicht verabschieden zu können. Am Ende werden es acht Tage, an denen ich dich im Spital besuche. Erst beim letzten Treffen bist du bewusstlos, am Samstag, weisst du noch? Ich besuche dich mit meinem Bruder und Mama. Du atmest schwer. Beim Einatmen setzt die Atmung jedes Mal aus, so dass mir das Herz in die Hose rutscht. Aber du gehst noch nicht. Du lässt dich nicht aufwecken, wir sind irritiert. Aber ich weiss, dass du uns hören kannst. Wir machen Witze und ich sehe, dass sich deine Mimik ändert. Du lachst im Kopf mit uns. Ich verabschiede mich ein letztes Mal von dir. Zuhause warten die Kinder. Ich würde gerne bei dir bleiben und tue es doch nicht. Ich denke, hoffe, fürchte, dass du gehst, wenn niemand bei dir ist.

Erstes Treffen nach fast zwei Jahren

Du freust dich, als du mich siehst. Als du siehst, dass ich gekommen bin aus der Schweiz. Die Kinder haben Bilder für dich gemalt, du hast Tränen der Rührung in den Augen. Die Bilder hänge ich an die Wand, damit du sie sehen kannst. Die Kinder wirst du nicht mehr sehen.

Du bist zuversichtlich, dass es schon gut gehen wird. Ist halt so. Die Ärztin nimmt mich und meinen Bruder auf dem Flur zur Seite. Ist wohl nichts mehr zu machen, er ist zu schwach, machen Sie sich auf alles gefasst. Die Ärzte vermuten, dass der bisher gut kontrollierte Prostatakrebs in die Leber gestreut hat und dort hoch aggressiv wütet. Die Testergebnisse sind zu diesem Zeitpunkt ausstehend, doch die Diagnose wird sich später bestätigen. Mein Bruder nimmt mich in den Arm und wir schluchzen beide.

Zuhause das fassungslose Gesicht meiner Mutter, als wir ihr eröffnen, dass du sterben wirst. Mein eigener Schmerz, mein Zusammenbruch. Ich weine und weine. Ich weine immer noch.

Musik im Auto

Ich besuche dich jeden Tag, auch mehrfach, zusammen mit meinem Mann oder zusammen mit meinem Bruder und meiner Mama. Die Kinder bleiben jeweils in eurem Haus zurück, denn ich will nicht, dass sie dich so sehen. Im Auto auf dem Weg in die Klinik und auf dem Heimweg danach läuft jeden Tag auf allen Radiosendern «Beggin’» von Maneskin in Dauerschleife. Mein Schmerz nimmt unbewusst eine Melodie an, ohne dass ich in diesen Tagen auf den Text höre. Während ich diesen Blogpost schreibe, läuft der Song via Knopf im Ohr:

I’m on my knees while I’m beggin‘
‚Cause I don’t want to lose you

I’m fightin‘ hard
To hold my own
Just can’t make it all alone
I’m holdin‘ on
I can’t fall back
I’m just a calm ‚bout to fade to black.

Das Lied umgibt mich die Tage wie ein Kokon. Ich begebe mich unbewusst in eine Blase. Ich laufe neben der Zeit im Nichts, alles ist unwirklich, luftleer, realitätsfern. Die Tage sind gefüllt von den Besuchen im Spital, bei dir. Wird es heute das letzte Mal sein? Morgen?

Deinem Naturell entsprechend scherzt du dauernd mit uns und mit dem Pflegepersonal. «Il est impressionant!», sagt die Ärztin zu mir. Du seist stoisch, beeindruckend. Du beschwerst dich nie über Schmerzen und das, was mit deinem Körper aktuell passiert. Du blutest viel, weil deine Gerinnung zerstört ist. Du liegst jeden Tag in deinem Blut. Ich sehe dich nie daran verzweifeln. So bist du. So warst du. Der Tod nur eine weitere Station. Erst zwei Tage vor deinem Tod wirst du auf Morphin gesetzt, weil die Schmerzen auch für dich unerträglich werden. Mit dem Morphin entgleitest du uns vollends.

Du und der Tod

Der Tod war dir immer egal. «Wenn es so weit ist, ist es halt so.» Noch auf dem Weg ins Spital sagst du zu Mama: «Wir nehmen es, wie es kommt.»

Eine Weile ist da dieser rosarote Elefant im Raum. Spreche ich mit dir über den Tod, darüber, dass du gehen wirst? Wie verhält man sich richtig? Was «tut» man in «so einer Situation»? Doch du machst keine Anstalten. Als die Ärztin dich fragt, ob sie uns informieren darf über deinen Zustand, sagst du: «Ja klar, gehen Sie nur raus mit ihnen.» Und als wir uns danach wieder sehen, fragst du: «Habt ihr alles gut verstanden?» Wir nicken gekünstelt fröhlich, mit einem Kloss im Hals. Du fragst nicht nach, nickst nur zufrieden. Ich denke, du willst uns nicht sagen müssen, dass es zu Ende geht mit dir, dass dein Körper es nicht mehr schafft, gegen die Gewalt des Krebses weiter anzukämpfen. Denn eines ist klar: Du wusstest schon vorher, dass es jetzt zu Ende geht. Aber ich denke, obwohl dir der Tod nie Angst gemacht hat, hast du jetzt einen Schutzmechanismus aktiviert. Du willst die Wahrheit gar nicht hören, weil sie dann real ist. Und das ist okay. Was ich gelernt habe in dieser Situation: Es gibt kein Richtig oder Falsch, für keinen von uns. Jeder macht das Beste, was er kann.

Diagnose

Irgendwann aber sagst du, du willst endlich wissen, was mit dir los ist. Ich bin überfordert, kann dir die Wahrheit nicht sagen. Also hole ich die Ärztin. Ich bin dabei, als sie dir die Testresultate erläutert. Sie erklärt dir alles, was in deinem Körper passiert. Aber sie sagt nicht: «Herr Bonini, Sie werden sterben.» Sie sagt: «Herr Bonini, Sie werden dieses Spital nicht mehr verlassen.» Ich finde das befremdlich. Warum sagt sie nicht die Wahrheit?! Hättest du sie gebraucht? Hätte ICH sie dir sagen sollen? Ich weiss es nicht.

Als ich dich am nächsten Tag wieder sehe, weisst du nicht mehr, was die Ärztin gesagt hat. Der aggressive Tumor vernebelt deinen sonst so wachen Geist. Oder ist es doch der Selbstschutz? Wir plaudern über Alltägliches, schauen zusammen die Tour de France, die du so liebst.

Der Wind wechselt die Richtung

In den ersten Tagen des Abschiednehmens kämpfe ich mit der Realität: Du wirst tatsächlich sterben. Ich will nicht, ich will nicht, ich will das nicht wahrhaben. Irgendwann ändert sich das aber. Auf den Schmerz folgt die Kapitulation. Du wirst sterben und ich kann nichts dagegen tun. Auf die Kapitulation folgt die schmerzhafte Erkenntnis: Alles, was jetzt kommt, ist nur eine Verzögerung deines Leidensweges. Ich will aber nicht, dass du leidest. Du sollst frei sein, schmerzfrei! Ich liebe dich so sehr, das will ich nicht für dich. Das hast du nicht verdient. Dich so zu sehen, bricht mir das Herz.

In der Klinikcafeteria tausche ich mich mit Mama und meinem Bruder aus. Ihnen geht es genauso. Wir wollen, dass du gehen darfst. Akzeptanz des Unvermeidbaren. Wir halten uns gegenseitig.

Zwischen den Welten

Immer wieder fragst du nach der Zeit. Die Zeit wird zum wichtigsten Gut, denn du hast den Bezug zu Raum und Zeit verloren. Zeit ist Leben. Du hängst dazwischen. Zuhause sage ich zu meinem Bruder: Papa wandelt bereits zwischen den Welten. Kurz vor deinem Tod sagst du zu mir: «Ich habe das gehört, zwischen den Welten wandeln.» Wie kann das sein. Es kann sein.

An deinem letzten Tag bei Bewusstsein tastest du dich immer wieder ab. Du musst deinen Körper spüren, weil dein Geist schon so weit weg ist. Du weisst schon lange nicht mehr, wann du träumst und wann du wach bist, das irritiert dich. Überhaupt irritiert dich alles. Wann kannst du wieder nachhause?

Abschied nehmen

Ich fasse allen Mut zusammen, sehe meinem Herzen beim Brechen zu, als ich vorsichtig sage: «Wenn du zu müde bist, ist es völlig okay, wenn du gehen willst. Aber wenn du noch magst, dann sehen wir uns morgen wieder.» Du nickst mir zu. Ich weiss nicht, ob du den Sinn meiner Worte verstehst. Ich verlasse das Zimmer und weiss nicht, ob es ein gemeinsames Morgen geben wird. Jeden Tag geht es mir so. Jeder Tag ist schwarz.

Bei unserem letzten Treffen bei Bewusstsein, am Freitag, wiederhole ich es liebevoll. «Du darfst gehen, Papi. Ich will nicht, dass du Schmerzen hast.» Verwundert schaust du mich an: «Aber wohin soll ich denn gehen?!» Ich bleibe dir perplex die Antwort schuldig. Am Tag vorher habe ich dir zum Abschied gesagt: «Tschüss, du bist der beste Papa der Welt.» Was du geantwortet hast? «Tschüss, und du die beste Tochter.»

Bis wir uns wiedersehen, Papi.

10 thoughts on “Mein Monument für dich – deine letzten Tage

  1. Liebe Severine, ein so schöner, trauriger Text, den ich so gut verstehen kann. Mein Vater starb auch an Prostatakrebs und genau so plötzlich und überraschend. Alles, was du von euren letzten Tagen berichtest, haben wir auch erlebt. Bei uns passierte aber alles innerhalb von 48 h – eine zu kurze Zeit, um zu verstehen, zu akzeptieren, um sich richtig zu verabschieden…Auch ich habe einen Song, „Sign of the times“ von Harry Styles…. „Just stop your crying
    It’s a sign of the times
    Welcome to the final show
    Hope you’re wearing your best clothes
    You can’t bribe the door on your way to the sky“
    Ich wünsche dir alles Liebe, Severine. Und wenn du so traurig bist, denke daran, dass es ist, weil so viel Liebe da war. ❤️

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert