Er starb lachend

Ich bin zurzeit schweigsam, weil ich denke. Ich denke viel, sehr viel seit meines Vaters Tod. Und dieses Denken, diese Trauerarbeit, braucht Platz. Ähnlich wie Kreativität nicht in einem Zeitslot von einer Stunde freigesetzt werden kann, ist tiefes Denken und Erkennen frei von Raum und Zeit. Und erst wenn wieder ein Mosaikstückchen am richtigen Ort verankert ist, kann ich darüber schreiben hier auf dem Blog. Heute gab es wieder einen Schlüsselmoment für mich in meiner Trauer. Einen von vielen, sicher. Aber diesen hier möchte ich mit euch teilen.

Das letzte Treffen

Am Samstag, 17. Juli, sah ich meinen Vater das letzte Mal lebend. Er war aber nicht bei Bewusstsein. Tags zuvor war er auf Morphin gesetzt worden, und wohl wegen der starken Schmerzmittel und natürlich wegen der fortgeschrittenen Krankheit war er nicht mehr ansprechbar. Mein Bruder, meine Mama und ich betraten also sein Krankenzimmer. Er lag schlafend da, wir wollten ihn wecken. Doch er reagierte nicht. Er atmete schwer. Wir schüttelten ihn. Er reagierte nicht. Kein Mensch kann so tief schlafen. Also war er bewusstlos. Wir redeten fröhlich mit ihm. Es war eine aufgesetzte Fröhlichkeit, denn wir alle hatten einen Kloss im Hals. Jedes Mal, wenn Papa einatmete, setzte seine Atmung kurz aus. Jedes Mal dachte ich: Ist er jetzt tot?

Das Grauen im Nacken.

Doch er atmete weiter. Ein – Pause – Pause – Pause – Pause – Aus.

Trauerarbeit dauert – das habe ich gelernt. Aber ich will meinen Papa ja auch gar nicht vergessen, sondern aktiv an ihn denken. Photo by Ann on Unsplash

Etwas Unglaubliches geschah

Die Ärztin hatte uns schon darauf vorbereitet, dass Papa an einem Punkt der Krankheit bewusstlos sein würde, dass er aber trotzdem alles hören könne, was wir reden.

Es war das erste Mal für mich, dass ich einen bewusstlosen Menschen sah. Wir unterhielten uns zu dritt am Krankenbett darüber, dass Papa uns hören könne. Und wir baten ihn darum, er möge uns doch ein Zeichen geben. Und tatsächlich – er bewegte irgendwie unmerklich seine Augenbrauen. Es ist körperlich nicht korrekt beschreibbar, und hätten wir es auf Video aufgenommen, würde man es vielleicht nicht einmal sehen. Aber wir HABEN es gesehen. Er war da, in seinem Körper, bei uns. Er hörte uns. Seine Ausstrahlung zeigte es, so unwirklich das auch klingen mag.

Mein Papa war immer ein fröhlicher Mensch gewesen, er hat immer Witze gemacht und konnte einen ganzen Saal unterhalten. Auch im Spital, noch bei Bewusstsein, scherzte er rum. An diesem seinem letzten Zusammentreffen mit seinen Liebsten, mit uns, haben wir IHN unterhalten. Mein Bruder und ich rissen familieninterne Witze. Und wisst ihr was? Papa hat gelacht. Bewusstlos wie er war, hat er dennoch schallend mit uns gelacht. Wir haben es an seiner Mimik, an seinem ganzen Sein erkannt. Er hat gelacht.

Das war das letzte Mal, dass ich ihn lebend sah. In der folgenden Nacht ist er gestorben.

Trauerarbeit: auf dem Weg zur Heilung

Ich lasse mich in meiner Trauerarbeit professionell begleiten und habe diese Geschichte heute weinend meiner Therapeutin erzählt. Und ihr Feedback gebe ich euch und mir hier schriftlich mit auf den Weg, weil ich es als heilend empfinde.

Sie sagte: «Was für ein schöner Tod, er durfte lachend gehen. Das ist sehr berührend. Danke, dass Sie ihm als Familie dieses Geschenk gemacht haben. Sie haben ihm damit ermöglicht, seinen letzten Weg zu meistern. Und danke, dass Sie mich daran teilhaben lassen.»

Ich finde diesen Perspektivenwechsel, den meine Therapeutin mir aufzeigt, unglaublich tröstend. Er ist kraftvoll. Vielleicht hilft er ja auch euch an einem Punkt in eurem Leben?

 

3 thoughts on “Er starb lachend

  1. Liebe Séverine, deine Schilderungen lassen Erinnerungen hoch kommen in mir… Mein Vater durfte auch „lachend“ sterben. Und zwar freute er sich vor dem Einschlafen so sehr auf den nächsten Morgen im Spital. Auf das Spital-Frühstück. 🙂 Jedes Mal, wenn er in seinem ganzen Leben, ins Spital gehen musste, fand er das Essen super gut! Und jedes Mal, wenn es ihm wieder etwas besser ging, wäre er gerne noch ein paar Tage länger im Spital geblieben, nur um es sich einfach gut gehen zu lassen. In jener Nacht als er starb, träumte er vom Frühstück am nächsten Morgen und sagte uns: „Morgen wird alles besser sein“. Und ja, so will ich es sehen: Am nächsten Morgen war vielleicht alles besser. Was wissen wir schon über den Tod. Vielleicht war er am nächsten Morgen an einem wunderbaren Ort.
    Dein Vater durfte auch lachend gehen. Das ist so tröstlich. So viele andere Menschen müssen die Schwelle zwischen Leben und Tod unter Qualen überschreiten. So hätte ich meinen Vater nicht sterben sehen wollen.
    Liebe Séverine, deine Gedanken helfen mir. Danke, dass du darüber schreibst und hoffentlich kann ich dir auch ein wenig helfen, wenn ich dir sage, dass ich immer wieder an dich denke. Dein Song „Begin“ höre ich seither aus allen anderen heraus und denke an dich.
    Herzlicher Gruss, Rita

    1. Liebe Rita
      Ich danke Dir so sehr für diese wunderbaren Zeilen und dass Du Dir die Zeit genommen hast, hier zu kommentieren! Wie schön, dass diese Erlebnisse und Empfindungen uns so sehr verbinden! Es bedeutet mir sehr viel, dass Du diese Erinnerung an Deinen Vater hier geteilt hast. Es hilft mir tatsächlich, es ist tröstlich. Es ist wie eine gegenseitige Brücke zu unseren geliebten Verstorbenen. Und dass Du an mich denkst in dieser schweren Zeit, ist so wertvoll für mich. Danke! Wir sind nicht allein.
      Liebe Grüsse
      Séverine

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