Der Tod eines Elternteils wirft automatisch Fragen nach dem eigenen Selbst auf. Wenn ein Teil der Wurzel fehlt, wie existiere ich dann noch? In meinem Fall ist es so, dass mich ein paar Mails, die ich in den Unterlagen meines Vaters gefunden habe, immer noch sehr aufwühlen. Und ich habe jetzt wochenlang darüber gegrübelt, was ich darüber schreiben will und in welcher Form und worum es mir eigentlich geht. Und vorhin war es plötzlich sonnenklar: Ich halte diese Mails meines Vaters hier auf dem Blog fest. Weil sie wieder ein Mosaikstückchen in meinem Denkmal für ihn und über ihn und mit ihm sind. Es ist quasi sein Nachruf, den es so nie gegeben hat, weil wir ihm ohne Abdankung und nur zu dritt auf dem Meer die letzte Ehre erwiesen haben. Was ich aber möchte: Ich möchte der Welt und vor allem meiner Familie, meinen Kindern zeigen, was für ein Mann mein Papa war. Und in der Konsequenz auch: was das für mich bedeutet. Hier also die Übersetzung seiner eigenen Worte, geschrieben auf Französisch an die Schwester seines ehemals besten Freundes, der im Juli 2020, fast auf den Tag genau ein Jahr vor ihm, gestorben war.
Sein Leben
«Einige Worte zu meinem Lebenslauf. Mit 18 und nur einem BEPC [brevet d’études du premier cycle, in etwa Abgangszeugnis Mittlere Reife, eckige Klammer jeweils Anmerkung Séverine] in der Tasche habe ich angefangen, in Golbey [in den Vogesen, nahe des Geburtsortes meines Vaters] bei der Firma Trane zu arbeiten, einer amerikanischen Firma, die auf Wärmepumpen spezialisiert ist. Danach absolvierte ich meinen Wehrdienst in Landau in der Pfalz, Deutschland. Ich war bei den Revolten von Mai 1968 dabei und wurde aufgrund dessen zwei Monate später aus dem Dienst entlassen. Ich hätte aber eigentlich die Möglichkeit gehabt, die Offiziersschule zu machen, aber das wollte ich nicht. Ich bin zurück an meine Arbeitsstelle in Golbey, aber nur für zwei Monate, denn ich fand einen neuen Job, der viel besser bezahlt war – aber überhaupt nicht interessant!!! Aber ich hatte ein Ziel: Ich wollte in der Schweiz arbeiten. Ich habe dann also meinen neuen Job an der französisch-schweizerischen Grenze angefangen, in Ferney-Voltaire [direkt bei Genf] bei I.O.S., die Firma gibt es aber nicht mehr. Danach arbeitete ich in der Schweiz in Genf bei Dupont de Nemours.
Aber nicht für lange, denn meine damalige Freundin, eine Berlinerin, ging nach Verona in Italien. Ich musste also einen Job in Italien finden. In Mailand arbeitete ich einige Zeit auf dem Feld. [Hier fehlt ein Satz, Anschlussfehler.] Nach Lörrach in Deutschland. Dort habe ich meine zukünftige Frau [meine Mama] bei der Arbeit kennengelernt.
Anderthalb Jahre später entschied ich mich, etwas anderes zu arbeiten, und ich ging nach Guadeloupe [in die Karibik] für eine Marktanalyse bezüglich Deckenelementen aus Polystirol und Stützbalken aus Polyurethan. Drei Monate später bin ich zurück in die Schweiz, meine Zukünftige fehlte mir so sehr. 1971 fand ich dann einen Job in Basel, was aber problematisch war, denn ich war kein Grenzgänger und hatte kein Domizil in der Schweiz. Ich fand ein Zimmer in St. Louis in Frankreich in der Nähe der Grenze. So konnte ich mich bei der Schweizer Grenzpolizei als Grenzgänger anmelden und meine Karriere bei Ciba-Geigy, heute Novartis, in der Agrochemie starten.
1984, kurz nach dem Tod meines Vaters und auf meinen Wunsch hin, wurde ich nach Guatemala in Zentralamerika versetzt. Dort war ich Marketing- und Verkaufschef für die Karibik: Dominikanische Republik, Jamaika, Haiti, St. Vincent, St. Lucia, Grenada, Trinidad, Martinique, Guadeloupe, Antigua sowie auch Guyana und Surinam. Ich habe agrochemische Produkte verkauft, also Herbizide, Insektizide etc. für grosse Plantagen, zum Beispiel Bananen. Ich war ein echter Abenteurer und Haudegen! 1988 kam ich zurück in die Schweiz.
Mit 54 Jahren habe ich mich dann frühpensionieren lassen. Man muss das Leben geniessen!!! Wir leben jetzt sehr friedlich zehn Minuten zu Fuss vom Meer entfernt in einem grossen Haus mit 180 Quadratmetern. Gesundheitlich geht es mir nicht so gut. Prostatakrebs! Ende Monat beginne ich wieder mit der Chemotherapie nach sechs Monaten Surveillance. Die Pause tat meinen Haaren gut, ich sah aus wie ein griechischer Hirte. Ich bin dem Grab näher als der 1. Kommunion. Aber ich mache das Beste aus allem und nutze jede Gelegenheit, die sich mir bietet. Am Wochenende gehe ich jeweils auf Wildschweinjagd – diese Leidenschaft hat mir mein Papa vererbt. Wir haben viel zu viele Wildschweine hier. Ausserdem gehe ich Forellen fangen. Unsere vier Gefriertruhen sind immer voll.»
Was habe ich von meinem Papa geerbt?
Das ist nur ein Auszug und bildet natürlich nicht sein komplettes Leben ab. Er schrieb auch über mich und meinen Bruder. Was mich beschäftigt: Er hat offenbar alles richtig gemacht. Er hat sich mit 54 frühpensionieren lassen und die letzten 20 Jahre seines Lebens das getan, was er liebt. Er war im Wald, in der Natur. Ich hingegen arbeite gefühlt ohne Unterbruch, bin ein Arbeitstier und unglücklich, wenn ich nicht arbeiten kann. Ich bin 44. Werde ich es schaffen, mich mit 54 frühpensionieren zu lassen? Oder werde ich arbeiten bis zum Umfallen? Was habe ich von meinem Papa geerbt, verbindet uns überhaupt etwas? Genau diese Frage stellte mir Béa von tollabea auf Twitter: «Was verbindet Dich mit Deinem Papa, was trägst Du weiter?» Das hat mich fragend zurückgelassen, auch wenn ich bereits 2017, just nach seiner Prostatakrebsdiagnose, hier auf dem Blog festhielt, was uns verbindet. Manchmal lässt die Trauer nur die Trauer zu und verschleiert den Blick.
Dann denke ich darüber nach, was er geschrieben hat. Wie er ohne irgendeine Ausbildung angefangen hat zu arbeiten. Er hatte ein Ziel vor Augen: die Schweiz. Er hat immer das gemacht, wonach ihm der Sinn war. Er hat sich nicht um jeden Preis verbiegen lassen. Er stammt aus einem kleinen Dorf in den Vogesen, wo es absolut NICHTS gab, keine Perspektiven. Also ist er raus in die Welt, hat früh Verantwortung für sein eigenes Leben übernommen. Er hat ausprobiert und wenn etwas nicht geklappt hat, hat er einfach etwas anderes gemacht. Er war ein Macher.
Und genau das bin ich auch. Ich bin eine Macherin. Ich habe immer meine Ziele vor Augen. Ich brenne für das, was ich tue. Bei ihm war es die letzten zwanzig Jahre die Wildschweinjagd. Bei mir ist es die Arbeit. Vielleicht ändert sich das eines Tages wieder. Aber ich weiss, dass ich diese Konsequenz im Handeln von ihm – und sicher auch von meiner Mama! – geerbt habe. Er gibt mir den Mut zu denken, dass ich alles tun kann, was ich will. Alles kann, nichts muss.
Und wer weiss, vielleicht arbeite ich ja eines Tages auf einem Feld in der Pampa. Ich bin frei. Danke Papi!