Trauerprozess: über das Loslassen, Stück für Stück

Als mein Vater im Sterben lag, war ihm die Zeit sehr wichtig. Von zuhause hatte er einen Wecker ins Spital mitgenommen, denn aufgrund einer Infektion am Auge konnte er in seinen letzten Lebenswochen fast nichts mehr sehen und er benötigte ein grosses Zifferblatt vor Augen. Der Wecker stand auf dem Beistelltisch im Spital. Er war knatschrot.

Schon bei meinem ersten Besuch am Sterbebett fragte er immer wieder nach der Zeit. Er hatte den Wecker nicht genügend im Blickfeld. Er tastete jeweils nach dem roten Plastikklotz. Ich sass an seinem Bett, hielt seine abgemagerte, zerbrechliche Hand. Wenn er wegdöste, fragte er plötzlich: «Seid ihr schon lange da? Wie spät ist es?»

Ich verstand, dass die Zeit etwas ist, woran er sich festhalten konnte. Ein Chronometer für das Menschsein. Ein Menschenleben, getaktet mit der inneren Uhr. Im Leben gibt es Regeln, die Einteilung der Zeit gehört dazu. Das macht uns zu Menschen. Wie spät ist es in Deinem Leben?

An einem der folgenden Tage empfing Papa uns aufgewühlt. Der Wecker war ihm wohl vom Beistelltisch gefallen und nun defekt. Er konnte die Zeit nicht mehr ablesen. Es beunruhigte ihn merklich.

Also machte ich mich nach dem Besuch auf die Suche nach einem Wecker. Endlich etwas, das ich tun konnte! Ich dachte, das sei keine so grosse Sache, doch weit gefehlt. Ich klapperte sämtliche Einkaufsläden der Gegend ab, auf grosser Mission für meinen sterbenden Papa. Ein letzter Wunsch, den ich ihm erfüllen konnte. Ich wollte für ihn die Zeit bändigen. Aber ich fand keinen Wecker. Am Ende wurde ich an einem Kiosk fündig, wo ich verzweifelt diesen hässlichen Klapp-Wecker für sage und schreibe 20 Euro (!) kaufte. Mission accomplished.

Wie spät ist es in Deinem Leben?

Tags darauf brachte ich den Wecker ans Krankenbett, einer Katze gleich, die stolz eine Maus nachhause brachte. Papa nickte mir nur zu. Dann lag er stumm da und grübelte in sich gekehrt. Den Wecker schaute er nicht an. Etwas hatte sich verändert. Die Zeit, sie war ihm bedeutungslos geworden. Er war weit weg, das spürte ich. Enttäuschung frass mich auf, ich schluckte sie hinunter wie so vieles in diesen unsäglichen Tagen. Mein Liebesbeweis versiegte im Nichts. ich hätte so gerne… ja was eigentlich? Was ich wollte, zählte nicht.

Er starb um 3.40 Uhr nachts. Nicht, dass er die Zeit mitgekriegt hätte.

Später nahm ich den Wecker, den ich so verzweifelt für meinen Papa gesucht hatte, zur Erinnerung mit zu mir nachhause in die Schweiz. Hier stand er nun neun Monate auf meinem Schreibtisch – so lange wie eine Schwangerschaft dauert, ist Papa nun schon tot. Als ich diese Woche mein Büro zügelte und den Schreibtisch aufräumte, fiel mein Blick auf den Wecker und ich dachte: Der muss weg.

Der Wecker erinnert mich nicht an meinen Vater. Er erinnert mich an seine furchtbaren letzten Tage. Mit jeder Faser meines Seins versetzt der vermaledeite Wecker mich in die Situation zurück, als ich verzweifelt versuchte, irgendetwas an der grauenhaften Situation kontrollieren zu können – ausgerechnet die Zeit.

Wir müssen uns aber nicht jedem Gefühl der Trauer hingeben, um verbunden mit unseren Toten zu sein. Ich habe gelernt, dass ich mich lieber an die schönen Momente mit meinem Papa erinnern möchte. Der Wecker gehört nicht dazu. Also lasse ich die schlechten Erinnerungen los und schliesse meinen Frieden mit ihnen, Stück für Stück.

3 thoughts on “Trauerprozess: über das Loslassen, Stück für Stück

  1. Ich finde es unglaublich bereichernd, dass und wie Du über Deine Trauerreise schreibst. Wahrscheinlich ist der grösste Grund, dass ich ebenfalls meinen Vater an seinen letzten Tagen begleitete. Aber davon abgesehen wird fast jede*r von uns in die Situation kommen, dass die eigenen Eltern gehen.
    Danke.

  2. So wertvoll, dass du deine Erfahrungen teilst, danke dafür. Persönlich bin ich mehr als froh, begegnet unsere Gesellschaft dem Tod langsam wieder mit mehr Offenheit. Zwangsweigerlich sind wir mindestens einmal alle damit konfrontiert und deine Erfahrung mit deinem Vater und dem Wecker zeigt uns einmal mehr, wie kostbar unser wichtigstes Gut ist und wie wenig es mit Konsum zu tun hat: Lebenszeit.

  3. Liebe Séverine,
    ich hab Tränen in den Augen und fühle mit dir. Was für ein schöner und trauriger Artikel.
    Ich saß auch eine Woche in allen Mittagspausen und Feierabenden am Bett meiner sterbenden Mama, und ich glaube, ich weiß was du meinst. Die Zeit erschien mir so unwirklich, als ich ihre Hand hielt, und ihrem Atem zuhörte, wie ein Kaugummi, der sich in alle Richtungen zieht…. als ob die Zeit gar nicht existieren würde. Als ob ich den Schleier sehen könnte, durch den meine Mama sich auf die andere Seite verabschiedete…. Völlig surreal. So kostbare Momente… ich möchte keinen davon missen.

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