Der Tod geschieht mir: Die Angst vor dem Sterben überwinden

Bald sind es zwei Jahre her, seit mein Vater gestorben ist. Der alles verzehrende Schmerz ist einer nostalgischen Trauer gewichen. Er wird nie mehr sein in meinem Leben. Ich werde in Zukunft immer ohne ihn sein. Wenn ich von ihm erzähle, sage ich: «Mein Vater war…». Es geht mir ganz einfach von den Lippen. Weil ich es geübt habe. Dass die Schallplatte in mir da einen Sprung hat, merkt man mir nicht an. Es ist, als würde ich auf die Frage «Wie geht es Dir?» automatisch mit «Gut» antworten. Wer kennt das bitte nicht?! Mein Vater war… Franzose. Mein Vater war… Jäger. Mein Vater war… sterbenskrank.

Es sind seither die grossen Fragen, die mich nach wie vor umtreiben, die mich recherchieren lassen. Wie war das für ihn damals, als er starb? Wie wird mein eigenes Sterben sein? Wie SOLL es denn sein, sofern ich es steuern kann? Wie fühlt sich das an? Kann man die Angst vor dem Sterben überwinden?

Neben den Ansätzen der Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross bin ich auf die Arbeiten von Monika Renz gestossen. Sie ist Musik- und Psychotherapeutin in der Psychoonkologie am Kantonsspital St. Gallen. Renz zählt zu den Pionierinnen der Spiritual-Care-Bewegung und hat schon viele Menschen in den Tod begleitet. Ihr Buch «Zeugnisse Sterbender. Todesnähe als Wandlung und letzte Reifung» hat mir die Augen in so vieler Hinsicht geöffnet. Was passiert, wenn wir sterben? Ich bin meiner Wahrheit einen Schritt näher, und das nimmt mir die Angst vor dem eigenen Tod.

Zwischen den Welten

In ihrem Buch beschreibt Renz alles Szenen, wie ich sie mit meinem Vater im Spital erlebt habe. Das Sterben als Prozess ist ein Grenzbereich zu einer anderen Seinsweise. Im Sterben sind wir entrückt. Im Sterben lässt man das «Ich» los, die Identität, man verliert sich immer wieder zwischen den Welten. Auch mein Vater war zeitweise abwesend, nicht da, wo anders. Renz sagt dazu: « Ein seltsamer Schutz hat sich zwischen sie und ihr Leiden gestellt.» Und das leuchtet völlig ein. Mein Vater hatte solch unglaublich starken Schmerzen, dass er bereits zwischen den Welten wandeln MUSSTE. Nur so war das Sterben erträglich, ja überhaupt schien er zufrieden mit sich und der Welt zu sein. Er beschwerte sich nicht. Dabei blutete er kontinuierlich aus den Augen, aus der Nase, aus dem Mund. Für uns Lebende unvorstellbar, schockierend. Für ihn nur eine Zwischenstation. Wir dürfen den Sterbenden ihr Schicksal zumuten, denn sie wissen bereits so viel mehr als wir, die wir zurückbleiben. Mein Vater war grossartig im Sterben, ein Vorbild an Würde und Grösse. Ich habe meinen Frieden mit seiner Art des Sterbens gefunden. Er war glücklich, er hatte uns bei sich. Am Ende zählt nur das: Liebe.

Symbolsprache

«Terminale Sprache ist gelebte Symbolsprache», sagt Renz. Ja, alle Gespräche mit meinem Vater waren in seinen letzten Tagen symbolhaft. Jedes Mal, wenn wir den Raum verliessen, sagte er: «Tschüss tschüss!». Als würde er den Abschied proben. Jedes Mal, wenn wir Kinder aus dem Raum gingen, lachten und weinten wir zugleich.

Sterbende hören und sind noch da. Deshalb soll man Wesentliches mit ihnen reden, auch wenn sie selbst vielleicht nicht mehr sprechen können. Unwesentliches interessiert nicht mehr. Ich habe damals versucht, Smalltalk mit meinem Vater zu betreiben, aber das hat ihn zuweilen eher verärgert, was ich nicht verstehen konnte. Heute denke ich, er wollte einfach SEIN, mit uns, aber auch alleine, im Hier und Jetzt und eben doch nicht hier. «Wie lange seid ihr schon hier? Wann geht ihr wieder?» Als würde er mich unbewusst loswerden wollen. Heute verstehe ich es – er war mit Grösserem beschäftigt. Alles war intensiv in diesem Raum, seinem Sterberaum. Auch für uns, die wir weiterleben würden. Sein Sterben war das Leben in seiner reinsten Form, die Essenz allen Seins. Ich bin zutiefst dankbar, das mit meinem Vater erlebt haben zu dürfen. Retrospektiv wünschte ich mir, ich hätte noch offener mit meinem Vater gesprochen, die uns verbleibende Zeit «besser» genutzt, aber dazu fehlte mir damals der Mut. Was mich tröstet: Auch das Symbolhafte unserer alleinigen Anwesenheit muss ihn gestärkt haben. Er wusste: ICH WERDE GELIEBT. Und kommt es nicht genau darauf an? Ist das nicht alles, was zählt? Unsere Liebe für einander? Nicht nur die Sterbenden sprechen symbolhaft. Auch wir Über-Lebenden dürfen das, ohne schlechtes Gewissen.

Als ich mich von meinem Vater verabschiedet habe, zum letzten Mal, sagte ich keine Floskeln. «Du darfst gehen Papi. Wie werden gut zu Mami schauen.» Und er konnte gehen.

Es hat keine Relevanz mehr

Die entscheidende Erkenntnis für mich: Im Sterben bestimmen wir nicht mehr, wir kommen in einen Zustand des «geschehen Werdens». Renz sagt: «Alles, was ‘Ich’ war, muss losgelassen werden.»

Ich habe begriffen: Ich kann noch so viel Angst vor dem Tod haben, das hat keine Relevanz. Wenn das Sterben naht, wird «es» mir egal sein. Alles wird egal sein. Der Tod wird mir geschehen und ich werde ihn leben. Der Tod wird mir geschehen. Ich werde in einem ganz anderen Bewusstseinszustand sein, als ich mir das heute vorstellen kann. Ich werde WAHR sein. Ich denke, ich habe die Angst vor dem Sterben ein Stück weit überwunden. Danke, Papi!

Vergleichen lässt sich das alles mit einem Zahnarzttermin, so banal das auch klingt. In zwei Wochen muss ich (wirklich!) zum Zahnarzt, es werde zwei Löcher geflickt. Der absolute Horror für mich! Aber was nützt es jetzt, mich zwei Wochen lang fertig zu machen und Angst vor dem Termin zu haben. Ich kann den Termin nicht verhindern, er ist nötig. Ich kann ihn akzeptieren. Aber ich denke nicht weiter darüber nach. Und wenn ich in zwei Wochen auf dem Stuhl sitze, weiss ich, dass ich diese 75 Minuten durchstehen werde. Es geschieht mir einfach. Und danach geht es für mich weiter. Beim Sterben halt einfach auf der anderen Seite des Vorhangs.

In ewiger Liebe, in ewiger Trauer, poste ich dieses Bild

2 thoughts on “Der Tod geschieht mir: Die Angst vor dem Sterben überwinden

  1. Danke…. einmal mehr, für deine Gedanken, die mir auch nach 6 Jahren sehr helfen, weil ich erfahren darf, dass nicht nur ich so fühle und denke. Du bist bis jetzt die einzige Person, mit der ich mich in dieser Frage verstanden und verbunden fühle.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert