Ich bin 162 cm gross und hatte schon immer Gewichtsprobleme. Als ich 15 war, ging meine Mutter deswegen mit mir zur chinesischen Akupunktur. Ich nahm dadurch tatsächlich rund 10 Kilo ab: Immer, wenn ich Hunger hatte, drückte ich auf eine dünne Nadel, die mit einem Pflaster an meinem Ohr angebracht war. Es half, die Konditionierung verhinderte, dass ich zu viel ass (welcher Teenager drückt sich schon freiwillig eine Nadel tiefer ins Ohr?!). Zudem ass ich nach 18 Uhr nichts mehr. Das funktionierte jahrelang ganz gut und ich hatte mein Gewicht mit 60 bis 65 Kilo im Griff, dann auch ohne die Akupunktur.
Wie ich zunahm
Aus Liebeskummer nahm ich wieder zu, als ich so um die 23 Jahre alt war. Es folgten mehrere Weight-Watchers-Episoden. Mit jeder hatte ich weniger Erfolg als mit der vorherigen. Es irritierte mich, dass nach ein, zwei Jahren Pause alle Weight-Watchers-Regeln wieder über den Haufen geworfen worden waren und ganz neue Regeln galten. Ich las ein Buch über die Montignac-Methode, hielt mich aber nicht daran. Machte Sport. Abnehm-Shakes und Essrestriktionen waren mir immer ein Gräuel, weil ich danach einfach das Doppelte ass, also liess ich zum Glück die Finger von Diäten. Ich war im Grossen und Ganzen im Reinen mit meinem Gewicht. Ich war halt so wie ich war.
Als ich meinen Mann mit 30 kennenlernte, wog ich um die 78 bis 80 Kilo. 2009 kam das erste Kind zur Welt, 2014 das zweite. Die 90 Kilo am Ende der zweiten Schwangerschaft blieben hängen. Dann kamen Corona und die Isolation und damit das Nichtstun. Mein Vater starb im Sommer 2021 und ich frass alles in mich hinein. Bis ich die Zahl auf der Waage stehen sah, die alles veränderte: 99,8 Kilo.

Der Weckruf
Ganz ehrlich, das machte mir eine Heidenangst. Noch 0,2 Kilo mehr und mein Gewicht wäre dreistellig gewesen. Es musste etwas passieren. Nun werdet ihr denken. «Oh, sie hatte einen Weckruf, wie cool! Bestimmt hat sie mehr Sport gemacht und ihre Ernährung umgestellt und jetzt wird sie mir tolle Tipps geben können, wie auch ich den heiligen Gral finde.» Aber so war es nicht. Weckruf ja. Aber seien wir realistisch. Ich war 99,8 Kilo schwer – da macht man nicht einfach mal mehr Sport. Da stimmt viel mehr nicht als die Zahl der Schritte, die man am Tag läuft. Zudem habe ich schon zig Ernährungsberatungen gemacht in meinem Leben, ich WEISS, wie ich mich besser ernähren soll. Ich kann es nur nicht. Ich bin ein Workoholic im Dauereinsatz für Job und Familie mit Null Zeit für mich. Wann sollte ich also bitte noch Sport machen oder mich gesund ernähren? Ich überlebte grad so jeden Tag. Da war keine Zeit für meinen Körper.
Ich war verzweifelt. Und fand Hilfe. Meine damalige Hausärztin überwies mich an einen Endokrinologen, und im Frühling 2022 startete ich mit Saxenda-Injektionen, ab Winter 2023/2024 dann mit Wegovy. Ja, ich nehme die Abnehmspritze, die keiner genommen haben will.
Wegovy und wie unser Gehirn tickt
Mein Endokrinologe hat mir die Augen geöffnet und ich bin sehr dankbar für sein Verständnis mir gegenüber. Mein Übergewicht ist eine chronische Krankheit (siehe Podcastfolge dazu), mit der ich schon seit Teenagerjahren kämpfe. Ich bin nicht zu faul. Mein Gehirn tickt bezüglich Essen einfach anders. Begriffen habe ich das in den ersten Wochen, als ich mir täglich Liraglutid, das ist der Wirkstoff von Saxenda, spritzte. Plötzlich erlebte ich, was es heisst, keinen Hunger mehr zu haben, satt zu sein! Ich konnte auf Essen verzichten, Mahlzeiten sogar auch mal auslassen. Dieses Gefühl kannte ich vorher nicht, ich hatte IMMER Hunger! Ich war im Team bekannt dafür, dass ich um 12 Uhr unleidlich war, weil ich dann essen gehen MUSSTE. Heute macht es mir nichts mehr aus, wenn ich erst später esse.
Saxenda bzw. das Folgeprodukt Wegovy verändert nicht nur das Hungergefühl im Magen, sondern wirkt auch im Gehirn – es beeinflusst den Hormonhaushalt und steuert so Appetit, Sättigung und Impulskontrolle. Ähnlich wie Ritalin bei ADHS regulierend auf das dopaminerge System wirkt und dadurch die Konzentrationsfähigkeit verbessert, greift auch Wegovy in neurobiologische Prozesse ein. Es hilft dem Körper, eine Art innere Steuerung wiederzugewinnen – nicht durch Willenskraft, sondern durch biochemische Unterstützung. Vereinfacht gesagt: Wenn jemand dick ist, stimmt vielleicht etwas im Hormonhaushalt nicht. Die Abnehmspritze kann helfen. Ist das falsch?
Nicht nur in den Medien ist die Abnehmspritze verpönt
In der öffentlichen Meinung wird die Abnehmspritze abgelehnt. Das Narrativ lautet: Man muss abnehmen durch Disziplin, nicht durch Medizin. Moralapostel und Fettphobiker:innen also bitte vortreten! In den Medien wurde zudem berichtet, dass der Hype um die Abnehmspritze zu Lieferengpässen bei Typ-2-Diabetiker:innen führte, die Ozempic «wirklich» benötigten. Ich habe die Diskussion nie verstanden – Ozempic und Saxenda haben NICHT den gleichen Wirkstoff?! Das Nachfolgeprodukt von Saxenda, auf das wir Übergewichtigen monatelang gewartet haben, nämlich Wegovy (mit dem gleichen Wirkstoff wie Ozempic, Injektion 1x pro Woche), wurde in der Schweiz zwar im Februar 2022 von Swissmedic zugelassen. Aufgrund des Produktionsengpasses war das Medikament jedoch erst im November 2023 erhältlich, als die negative Berichterstattung bereits wieder abflaute. Vorher gab es nur Saxenda. Da die Spritze in Hollywood und auf Social Media aber bereits vorher zum Trend wurde, hatte sie von Anfang an das Image eines Lifestyle-Helfers, dabei ist das Medikament eine ernstzunehmende Therapieoption für wirklich adipöse Menschen.
Das Stigma ist enorm, und ich habe gezögert, hier auf dem Blog öffentlich über meinen Weg zu schreiben. Aber nur kurz. Dann dachte ich: Hey ich bin 48, immer noch 162 cm gross und mittlerweile 75 Kilo schwer. So leicht war ich das letzte Mal mit Mitte 25. Ihr könnt denken, was ihr wollt. Ich möchte hier mit diesem Blogpost aufklären und zeigen, dass es OK ist, sich medizinische Hilfe zu holen. Eine Internet-Recherche ergab nämlich: Es gibt keine deutschen Blogposts von Betroffenen. Weil eben – Stigma.

Lieber doch ein Magen-Bypass?
Beim Erstgespräch sagte mein Endokrinologe: «Mit Ihrem BMI ist die Indikation zur bariatrischen Chirurgie gegeben.» Auch das war neben den 99,8 Kilo ein Schock. Ich ging in die Klinik zur Sprechstunde und liess mich ausführlich zu den operativen Optionen der Magenverkleinerung beraten, bevor ich mich für die Spritze und gegen die OP entschied. Mit der OP hätte sich mein Essverhalten für den Rest meines Lebens verändert. Und das wollte ich nicht, dafür liebe ich gutes Essen viel zu sehr! Ausserdem machte es mir Angst, mich unters Messer zu legen.
Was das Umfeld über die Abnehmspritze denkt
Ich habe nie gross breitgetreten, wie ich abgenommen habe. Ich erhalte viel positives Feedback auf mein neues Erscheinungsbild, was mich jedes Mal unglaublich freut. Wenn ich doch jemandem von der Abnehmspritze erzähle, dann höre ich oft: «Also ICH könnte das nicht.» Das ist nicht einmal wertend gemeint, sondern einfach eine Aussage. Und doch erinnert es mich daran, wie ich früher, als die Kinder klein waren, zu hören kriegte: «Was, du arbeitest so viel, obwohl du Kinder hast? Also ich könnte das nicht.» Es ist halt immer eine Wertung. Und mit dieser Be-Wertung kommt das Zögern, ob man es dem Umfeld erzählen soll. Die Scham ist gross.
Ganz so einfach ist es nicht
Die Abnehmspritze ist das eine. Mit ihr habe ich tatsächlich mehr Lust auf Gesundes, Salate! Fettiges ekelt mich. Irgendwie tickt mein Gehirn jetzt anders, und das ist nicht nur ein Placebo-Effekt. Ich spüre Hunger, ich spüre aber vor allem Sättigung. Ich kann alles essen, was ich will, nur ist es nun weniger in der Menge. Dazu kommt aber Sport. Im Februar 2022 bin ich einem Badminton-Club beigetreten und ich trainiere jede Woche. Zwischenzeitlich habe ich Zumba gemacht, aber ich habe es auf die Dauer nicht geschafft, zwei fixe Termine in der Woche aufrecht zu erhalten. Seit diesem Winter gehe ich zusätzlich zum Badminton noch ein- bis zweimal pro Woche ins Fitness. Mit dem Gewichtsverlust ist die Lust an der Bewegung gestiegen. Ich mag meinen Körper wieder.
Abnehmspritze Nebenwirkungen
Das klingt alles supidupi und war es lange auch. Im Herbst 2024 hat mich aber ein fieser Norovirus erwischt. Seither ist mein Magen-Darm-Trakt total aus dem Ruder und ich leide immer wieder mal unter starken Nebenwirkungen von Wegovy, was vorher nie der Fall gewesen war. Durchfall, Reflux, Übelkeit, Bauchschmerzen. Es kann mich jederzeit erwischen. Deshalb musste ich die Dosis reduzieren und ich dümple so vor mich hin und bin im Gewichtserhalt. Die Angst ist riesig, dass ich wieder zunehme. Denn Wegovy ist eine lebenslange Therapie, wenn man die Spritze absetzt, nimmt man in der Regel wieder zu. Das ist das Kleingedruckte. Das ist OK für mich, denn ich habe ja auch schon mein Leben lang Gewichtsprobleme. Ich habe mich bewusst für die Spritze entschieden. Nicht, weil es ein leichter Weg ist, sondern für mich der richtige. Ich fühle mich so wohl in meinem Körper wie seit Jahrzehnten nicht mehr! Deshalb versuche ich aktuell, meine Darmflora mit dem Zuführen von Mikrobiota wieder in den Griff zu bekommen, damit die Nebenwirkungen von Wegovy nicht mehr so aufschlagen.
Ob es mir gelingen wird, weiss ich noch nicht. Doch ich mache jetzt viel mehr Sport und hoffe irgendwie auf meinen Körper. Schliesslich habe ich es mit 30 auch geschafft, mit dem Rauchen aufzuhören. Ich fühle mich fit und voller Elan! Ich bin mitten im Leben! Ich gehe regelmässig zum Endokrinologen und zur Ernährungsberatung. Ich bleibe dran und gebe mich nicht auf.
Ich bin 25 Kilo los. Die will ich auf keinen Fall wieder zurück.
Bildquelle Header: Diana Polekhina