Kommunikation bei Demenz

«Seit dem Tod deines Papas ging es deiner Mama überhaupt nicht gut.» Die Worte aus der Trauerkarte eines Nachbarn meiner Eltern beschreiben ihre letzten vier Jahre ziemlich gut. Sie zog sich sozial komplett zurück und verschanzte sich in ihrem geliebten Haus. Kommunikation bei Demenz ist ein schwieriges Unterfangen. Anfangs schrieben wir uns noch Whatsapp-Nachrichten oder Mama hinterliess Sprachnachrichten, schickte Videos vom blauen Himmel in Südfrankreich. Fotos trudelten ein. Mit der Zeit wurden die Nachrichten immer abgehakter und kryptischer. Die letzten zwei Jahre kam mal ein Daumen-hoch-Emoji oder ein Musikvideo von youtube, das sie kommentarlos teilte. Sie verstummte immer mehr.

Sie telefonisch zu erreichen, war zu einem Spiessrutenlauf geworden. Zum einen hatte sie aufgrund der Trauer um meinen Papa und in Kombination mit der fortschreitenden Demenz oft keine Lust auf Interaktion. Zum anderen wusste sie nicht mehr, wie man ein Handy bedient. Es überforderte sie ganz einfach. Wenn wir aber telefonierten, freute sie sich immer. Wochenlang wusste ich jeweils nicht, ob sie noch lebte, alleine in diesem grossen Haus, 900 Kilometer von uns entfernt. Aber sie weigerte sich stoisch, in die Schweiz zu ziehen, obwohl ich sie immer wieder regelrecht anflehte. Demenz lässt keine Veränderungen zu, diese sind einfach nicht mehr denkbar. Das Haus gab meiner Mama Sicherheit. Wir Kinder akzeptierten das, um die Autonomie meiner Mama und ihren Willen möglichst lange aufrecht zu erhalten.

Wie kommunizieren, wenn eine der beiden Seiten schweigt?

Irgendwann ging ich dazu über, via Whatsapp den Status meiner Mama zu checken. Wann war sie das letzte Mal online? So wusste ich wenigstens, dass sie zumindest zu diesem Zeitpunkt noch gelebt haben musste. Alles andere war unklar. Oh, diese Ohnmacht!

Als auch das nicht mehr klappte, weil sie das Handy abstellte und vergass, es wieder einzustellen, ging ich dazu über, online auf ihrem Bankkonto nachzusehen, wann sie in einem Laden etwas mit Karte eingekauft hatte. So wusste ich, dass sie zumindest dann noch gelebt hatte. Oh, diese Ohnmacht!!!

Wenn auch das zu lange her war, rief ich die Nachbar:innen an. «Habt ihr sie gesehen, sind die Storen oben?»

Das Umfeld mit ins Boot holen

Ihre Freund:innen beschwerten sich bei mir, dass man Mami nie erreicht. Viele Beziehungen schliefen ein, weil es eine einseitige Kommunikation wurde und keiner Verständnis dafür hatte, warum sie sich so einigelte.

Und dann las ich 2023 ein Buch, das mir die Augen bezüglich ihrer Demenz in vielen Dingen öffnete: Dement, aber nicht vergessen [kein Affiliate Link]. Daraus habe ich unter anderem folgenden Input gezogen:

  • Gerade zu Beginn der Vermutung einer Demenz sollte man als Angehörige ein Tagebuch der Fehlleistungen führen. Das verdeutlicht schwarz auf weiss, was alles nicht so funktioniert, wie es funktionieren soll. Es hilft, die Selbsttäuschung zu beheben, denn es gibt auch gute Tage, wo man sich sagt: «Ach so schlimm ist das doch alles nicht! Ich bilde mir das nur ein.»
  • Man sollte sich mit dem Umfeld austauschen, um Klarheit zu schaffen. Freund:innen und Verwandte reagieren rücksichtvoller, wenn sie wissen, woran sie sind.

Und genau diesen zweiten Punkt habe ich nach dem Lesen des Buches in die Tat umgesetzt. Ich habe Stück für Stück das Umfeld informiert, dass Mami dement ist. Zuerst die nächsten Nachbar:innen, die jeden Tag mit ihr zu tun hatten. Dieser Schritt ist mir unglaublich schwer gefallen, weil es sich nach Verrat anfühlte. Die Nachbar:innen waren zunächst konsterniert und konnten das gar nicht glauben mit der Demenz. Bis fast zum Schluss sagten sie mir immer wieder: «Nein nein, es geht ihr ganz gut. Sie ist einfach etwas eigenbrötlerisch geworden.» Das entspricht wieder dem ersten Punkt der obigen Auflistung. Wenn man sich nicht vergegenwärtigt, WAS ALLES GENAU falsch läuft, kann man das Fehlverhalten immer wieder als eigenbrötlerisch abtun. Aber da ich die Nachbar:innen informiert habe, konnten sie ab sofort merkwürdiges Verhalten auch besser einordnen.

Dann habe ich meine Tante informiert. Da sie nun wusste, dass meine Mutter nicht aus Bequemlichkeit oder Arroganz nicht anrief, sondern einfach, weil sie es nicht mehr KONNTE und nicht besser wusste, ermöglichte das den beiden Schwestern, wieder in wohlwollendem Kontakt zueinander zu kommen. Meine Tante gab sich nun noch mehr Mühe als vorher schon, dafür bin ich ihr sehr dankbar. Am Ende war sie sogar am Sterbebett dabei, was allen Beteiligten viel bedeutet hat.

Die Demenz kompensieren

Typisch für Demenzkranke: Sie können in ihrem gewohnten Umfeld sehr lange über die Demenz hinwegtäuschen, man nennt das Kompensieren. Mami sagte bei einer falschen Äusserung immer gerne: «Das wusste ich. Das habe ich extra so falsch gesagt *zwinkerzwonker*. In den letzten Monaten wurde aber die Wortfindungsstörung immer mehr zu einem Vokabular des Vergessens. So wollte sie mir erzählen, dass sie Kiwi gegessen hatte. Sie fand das Wort aber nicht mehr und rutschte in ein spanisches „Guacamol“ für Avocado, noch aus ihrer Zeit in Zentralamerika (Langzeitgedächtnis). Gleiche Farbe – falsche Frucht und falsche Sprache.

Das Haus half ihr, festgefahrene Rituale aufrecht zu erhalten. Sie wusste, wo alles zu finden war, weil es schon immer so gewesen war. Das fiel keinem im direkten Umfeld auf. War sie aber für jeweils zwei, drei Wochen bei mir in den Ferien, war sie in der Kurzzeitfalle gefangen. Der Speicher war komplett gelöscht bzw. nicht existent.

Als wir nun nach ihrem Tod angefangen haben, das Haus zu räumen, stiess ich überall im Haus auf solche Zettel:

Für jeden Tag ein neuer Zettel. Sie sollten Halt geben, Orientierung in einer Welt und einer Zeit, aus der meine Mama schon längst herausgefallen war.

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