Der Blogeintrag, den ich seit sehr langem befürchtet habe, sucht sich seinen Weg auf die Tastatur. Am letzten Sonntag, 17. August, ist meine geliebte Mutter gestorben.
Aus Respekt und Liebe zu dir habe ich lange geschwiegen. Nun ist es an der Zeit zu reden. Weil ich mich hier auf dem Blog und im Leben immer auch ein wenig als Leitfigur sehe, die anderen vielleicht helfen kann. Meine Mutter hatte Demenz. Und so werden die kommenden Blogposts verschiedene Aspekte dieser schlimmen Krankheit und unseres ganz persönlichen Leidenswegs als Familie aufzeigen. Du bist aber nicht an der Demenz gestorben, denn an Demenz stirbt man nicht. Ich kann nicht mal sagen, woran genau du gestorben bist. Am Ende war es multiples Organversagen.

Ich habe lange überlegt, wie ich das in Worte fassen kann. Worte, die mir doch so wichtig sind. Ich habe gemerkt: Eigentlich ist es ein Protokoll des Grauens, und nur so kann ich es in der Dichte zusammenfassen und mich nicht im Detail verzetteln. Denn jeder Tag der letzten zwei Wochen wäre einen eigenen Beitrag wert.
Donnerstag, 31. Juli
Die Nachbarn meiner Mutter alarmieren uns Kinder, dass sie in einer besorgniserregenden Verfassung ist. Sie ist offenbar wieder gestürzt, kann sich aber nicht daran erinnern. Mein Bruder lässt alles stehen und liegen und fährt in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Südfrankeich zu ihr, wo er am Morgen des 1. August ankommt. Sie macht die Türe nicht auf. Nach ungefähr zwei Stunden öffnet sie dann doch, sie hat vergessen, dass er kommt und hat die Klingel offenbar nicht gehört. In den zwei Stunden habe ich mir bereits ausgemalt, was ihr alles im Haus zugestossen sein könnte – wie die ganzen vier Jahre zuvor schon, wo sie alleine gelebt hat. Mein Bruder verschafft sich im Haus einen Überblick und stellt fest: Sie kann nicht mehr alleine wohnen. Dazu kommt, dass meine Mutter kaum gehen kann. Sie ist einverstanden, sofort und für immer in die Schweiz zurückzukommen, zu uns, ihrer Familie.
Sonntag, 3. August
Gegen Abend kommen sie bei mir zuhause an, wo sie vorerst wohnt. Mir fällt auf, dass sie unruhig (Fachbegriff: agitiert) ist. Immer wieder steht sie vom Sofa auf und kommt in die Küche. Ein neues Symptom. Hin und her, hin und her. Ihrer Lieblingssendung im TV kann sie kaum folgen. Ich merke beunruhigt: Da ist ziemlich viel passiert in den letzten Wochen. In der Nacht schicke ich ein Stossgebet zu meinem Vater: Bitte hilf mir, eine gute Lösung für sie zu finden.
Montag, 4. August
Meine Schwiegermutter empfiehlt mit eine Pflegeresidenz in Aarau, nur zehn Minuten von mir entfernt. Ich rufe dort an – sie haben ein Zimmer frei. Ich kann mein Glück kaum fassen. Um 13.15 Uhr gehe ich das Zimmer besichtigen, es matcht sofort mit der Heimleitung. Es ist kein Altersheim, sondern eine Wohnung mit fünf Bewohner:innen, die gepflegt werden müssen. Klein, persönlich, liebevoll. Die Pflege ist 24/7 vor Ort. Die Heimleiterin sagt, sie nimmt nicht jeden, bei uns habe sie ein gutes Gefühl. Eintrittstermin: Donnerstag, 7. August. Ich breche vor der Heimleiterin vor Erleichterung in Tränen aus.
Dienstag, 5. August
Wir werden bei mir zuhause um 1 Uhr nachts von einem Gepolter geweckt. Meine Mutter ist schlimm gestürzt. Sie liegt blutüberströmt auf dem Boden und wimmert. Ich bin total überfordert mit der Situation, wir rufen den Krankenwagen. Die nächsten drei Tage verbringt sie verwirrt im Spital, während wir uns um den Einzug ins Heim kümmern. Ganz wichtig: Sie muss ihre Handtasche und ihr Handy immer bei sich haben und fragt, wo ihr Schmuck ist. Die Tasche gibt Sicherheit.
Donnerstag, 7. August
Meine Mutter wird von der Klinik direkt in ihre «Altersresidenz», wie ich es nenne, gefahren. Ich nehme sie in Empfang, zeige ihr alles. Sie ist verständlicherweise sehr verwirrt. Wir essen gemeinsam, sie ist guter Dinge, auch wenn sie nicht versteht, warum sie jetzt hier ist. In den folgenden Tagen besuche ich sie immer wieder. Bei Beginn des Besuchs ist sie jeweils unzufrieden, wenn ich gehe, ist sie aufgeräumt und happy. «Das chunt guet.» Mein Bruder und ich kümmern uns derweil um Administratives bezüglich des Wohnortwechsels Frankreich/Schweiz.
Mittwoch, 13. August
Sie beschwert sich erstmals bei meinem Bruder, sie wolle jetzt sofort nachhause nach Frankreich. Sie könne nicht in dieser Wohnung bleiben, es sei fürchterlich. Sie müsse zu ihrem Haus sehen. Ich ärgere mich. Die Siedlung ist toll, das Team ultranett, das Essen gut. Sie hat ein liebevoll eingerichtetes Zimmer und kann uns jederzeit sehen. Ich bin müde.
Donnerstag, 14. August
Sie ruft mich an und bittet verzweifelt darum, nach Frankreich gebracht zu werden. Sie hängt mir weinend das Telefon auf. Ich alarmiere die Heimleitung und diese verspricht, sofort zu ihr zu gehen. Eine Stunde später ruft mich die Heimleitung an. Meine Mama hatte einen epileptischen Anfall und ist aktuell nicht ansprechbar. Ob sie den Notfallwagen rufen dürfe? Ja. Meine Mutter wird erneut ins Spital eingeliefert. Als ich sie sehe, ist sie verwirrt, aber es geht ihr gut. «Ich verstehe gar nicht, warum ich hier bin.» «Mama, du hattest einen epileptischen Anfall und warst bewusstlos. Wir müssen abklären, warum das passiert ist. Aber hier schauen alle gut zu dir.» «Aha. Ich verstehe gar nicht, warum ich hier bin.»
Freitag, 15. August
Sie ist nun auf der Überwachsungsstation. Es werden zahlreiche neurologische und kardiologische Tests gemacht. Ihre Kopfhaut juckt, weil offenbar ein EEG gemacht wurde und sie noch Kleberreste zwischen den Haaren hat. «Mama, mach dir keine Sorgen, beim nächsten Duschen kannst du das dann rauswaschen.» Sie fragt nicht nach der Handtasche und ihrem Schmuck, das irritiert mich. Jedem Arzt und jeder Pflegefachperson erkläre ich: «Sie hat Demenz. Es ist noch nicht korrekt diagnostiziert worden, aber sie hat definitiv eine Demenz.» («Bitte glauben Sie mir!»)
Samstag, 16. August
Sie wird auf die Innere Medizin verlegt. Wir möchten mit einem Arzt reden, aber es ist nur das Wochenendteam da inklusive Notfallarzt, der sich bedeckt gibt, man «müsse abwarten». Meine Mama redet nur verlangsamt. Sie fragt nicht nach ihrer Handtasche oder ihrem Ehering. Aber sie möchte ihre Enkelkinder sehen. Ich verspreche, dass sie morgen kommen.
Sonntag, 17. August
Meine Mutter ist mit Medikamenten zugedröhnt und kann kaum die Augen offenhalten. Endlich kommt der Arzt hinzu. Wir stehen alle bei meiner Mama am Bett, sie wimmert vor Schmerz. Der Arzt erklärt uns, dass es ein schwieriger Fall ist. Sie hätten eine schwere Herzinsuffizienz entdeckt, ob das bekannt sei? Nein. Die Herzinsuffizienz ist weit fortgeschritten, da unbehandelt. Dazu hat sie einen Infekt entwickelt und ihre Nieren versagen. Ab hier ist mir der Ausgang der Geschichte klar und das Grauen packt mich. Ich weine. Der Arzt fährt fort. Eine Behandlung der Herzinsuffizienz greife wiederum die Nieren an. Was wir tun wollen, ob sie auf die Intensivstation verlegt werden soll? Mein Bruder und ich schauen uns an. «Wir machen gar nichts. Sie will schon lange gehen, wir lassen sie gehen.»
Meine Mama ist im Dämmerzustand, als der Arzt vor ihr sagt: «Die Demenz ihrer Mama und der epileptische Anfall zeigen, dass etwas in ihrem Gehirn nicht stimmt, wir sind aber noch nicht ganz schlau diesbezüglich. Der Infekt, die Nieren…. Wir besprechen das bewusst hier im Kreis mit ihrer Mama zusammen und entscheiden gemeinsam und machen keine Geheimnistuerei. Wenn ihre Mutter keine lebenserhaltenden Massnahmen wünscht, respektieren wir das alle. Wir werden schauen, dass sie keine Schmerzen hat und so friedlich wie möglich gehen kann. Wenn sie die Nacht gut übersteht und stabil ist, kann sie am Montag ins Heim zurück, um in einer ruhigen Atmosphäre gehen zu dürfen.»
Als meine Kinder später dazu kommen, wird meine Mutter nochmals kurz wach. Sie freut sich so, sie zu sehen. Sie strahlt regelrecht. Dann dämmert sie wieder weg.
Um 17 Uhr verabschiede ich mich von ihr. «Du bist die beste Mama der Welt. Du hast es bald geschafft. Bald bist du bei Papa.» Sie runzelt fragend die Stirn, auf die ich sie weinend küsse. Dann gehe ich. Morgen, Morgen ist auch noch ein Tag zum Verabschieden. Wir haben sicher noch morgen.
Sonntag, 17. August, abends
Um 21.30 Uhr liege ich im Bett. Ich wollte lesen, aber ich kann nicht. Der Ventilator läuft, es ist so heiss. Ich liege mit geschlossenen Augen da und denke unendlich traurig über alles nach. Ich hoffe, dass ich am Montag nochmals mit ihr reden kann, dass sie dann wacher ist. Dann geht um 22.15 Uhr plötzlich der Ventilator von alleine aus. Ich erschrecke. War es das? Ist es ein dummer Zufall? Oder ein Zeichen?
Um 22.30 Uhr ruft mich die Ärztin an, um mich zu informieren, dass meine Mama um 22.15 Uhr gestorben ist. Sie wollte wohl wirklich nicht ins Heim zurück…
Meine Mama war wie eine Pflanze, die entwurzelt wurde: Innerhalb von nur zwei Wochen in der Schweiz ist sie verwelkt. Am Ende tröstet mich allein der Gedanke, dass sie nun nicht wie jahrelang befürchtet alleine in dem grossen Haus in Frankreich gestorben ist, sondern kurz und relativ schmerzlos bei und mit ihrer Familie in der Schweiz. Ich liebe dich auf ewig, Mami!
In tiefer Trauer

Mein herzliches Beileid, liebe Séverine. Dein Bericht hat mich zu Tränen gerührt. Viel Kraft euch allen🧡
Mein ganz herzliches Beleid.
Meine Mutter verstarb mit 59 vor jetzt nicht ganz 5 Jahren an/mit Demenz. Es ist so grausam. Ich wünsche Euch viel Kraft.