Demenz: Die verlorene Zeit

Erste Auffälligkeiten gab es schon, als mein Vater noch lebte. «Sie macht mich wahnsinnig mit ihrer Wiederholerei», jammerte er am Telefon. Und auch mir war aufgefallen, dass sie sich immer wieder an bestimmte Dinge, die wir gerade erst besprochen hatten, offenbar nicht mehr erinnern konnte. Mein Vater versprach, mit meiner Mama zum Arzt zu gehen, um eine Demenz abklären zu lassen. Doch sein Tod kam uns zuvor. Das war 2021.

Beruflich hat mich schon immer das Thema Demenz sehr interessiert. Vielleicht, weil meine Grossmutter Demenz hatte. Und ja, Demenz ist vererbbar. Ich war von Anfang an sehr hellhörig bei meiner Mutter. Für sie war es ganz schlimm, dass ihre eigene Mutter Demenz hatte. Sie sagte immer: «Bevor ich Demenz habe, bringe ich mich lieber um!» Gott sei Dank hat sie diesen Punkt zeitlebens verpasst. Aber ich musste vier Jahre lang mit ansehen, wie sie immer tiefer in der Demenz gefangen war.

Screening-Test MoCA

Als Mami 2022 bei uns in der Schweiz in den Ferien war, ging ich mit ihr zu meinem Hausarzt, sie benötigte Schlaftabletten, die sie in Frankreich vergessen hatte. Ich bat den Arzt im Vorfeld, unauffällig einen Demenztest bei meiner Mama zu machen. Ich sass neben ihr, als der Arzt sie aufforderte, eine Uhr mit Zifferblatt zu zeichnen, das ist der sog. Uhrentest als Teil des MoCA-Tests, einem Screening-Instrument für Demenz und andere kognitive Störungen. Sie bekam die Zahlen mit Mühe und Not hin, schaute mich immer wieder verunsichert wie ein kleines Kind an, ob sie es richtig machte. 15 Uhr sollte sie eintragen. Sie wusste nicht mehr, für was man den langen und für was den kurzen Zeiger brauchte. Sie sass völlig hilflos neben mir. Meine Welt brach zusammen. Sie musste noch ein paar andere kognitive Fragestellungen lösen. Es gelang mehr schlecht als recht, und mich überkam eine tiefe Trauer. Zum ersten Mal hatte ich einen Beweis, dass da wirklich etwas nicht stimmte.

Mama wurde wütend. «Das ist doch viel zu schwer!» Die Fragen stressten sie. Ich tröstete sie, dass das doch ganz normal sei im Alter, dass so eine Testsituation halt stresst. Das sagte auch der Arzt und entliess uns. Er hat mich nie wieder darauf angesprochen. Schliesslich war Mama nicht in der Schweiz krankenversichert und nicht seine Patientin. Ich stand mit «meinem» Problem wieder allein da.

Keine Hilfe in Sicht

Immer wieder habe ich sie in den letzten Jahren zu animieren versucht, bei ihrem Arzt in Frankreich einen Gedächtnistest zu machen. «Jaja, das mache ich dann beim nächsten Arzttermin, versprochen.» Nur wusste sie es dann nicht mehr, wenn sie effektiv beim Arzt war. Dort holte sie nur Rezepte für Schlaftabletten und Antidepressiva, weil sie um meinen Vater trauerte. Der Arzt seinerseits fragte eine Demenzproblematik offenbar nie aktiv ab.

Noch im Januar dieses Jahres habe ich verzweifelt bei ihrem Hausarzt in Frankeich angerufen und ihm unser Problem zu schildern versucht. Ich erhoffte mir seine Hilfe. «Ihre Mutter ist nicht dement. Ich erkenne eine Demenz, wenn ich eine sehe», würgte er mich ab. «Was soll denn so ein Test bringen? Ich müsste sie überweisen, es geht Monate, bis sie einen Termin in der Neurologie kriegt. Sie hat keine Demenz, sie ist nur depressiv, weil sie so alleine ist. Sie sollten sie in die Schweiz holen.» Dass meine Mama sich weigerte und ich sie nicht einfach entmündigen lassen konnte oder wollte, hörte er nicht mehr, denn er hatte schon aufgelegt. Er liess mich mit meinem Problem allein.

Aus der Zeit gefallen

Als mein Bruder sie nun Anfang August in Frankreich holte, ging er mit ihr nochmals zu ihrem Hausarzt. Es ging darum, einen Bruch auszuschliessen nach ihrem jüngsten Sturz. Offenbar erinnerte sich der Arzt doch noch an meinen Anruf vom Januar. Er sagte, er erkenne Mama nicht wieder. Welches Jahr wir hätten? 2024. Wann ihr Mann gestorben sei? Sie wusste es nicht. Wann ihr Sohn Geburtstag habe? Sie wusste es nicht. Er entliess sie mit den besten Wünschen für ihr neues Leben in der Schweiz, im Kreise der Familie. Ich hoffe, dass ihn das schlechte Gewissen plagt. Und Diarrhoe.

Mami hatte nebst zahlreichen Weckern eine Armbanduhr im Gepäck. Das Lederband war abgegriffen und die Uhr stehengeblieben. Noch in der Woche vor ihrem Tod besorgte ich ein neues Lederarmband und liess eine neue Batterie einsetzen. Wollte ich meiner Mama die verlorene Zeit zurückgeben? Ich bin nicht mehr dazu gekommen, ihr die reparierte Uhr zu geben.

Stattdessen fiel mir nun ein, dass ich, als mein Papa starb, als eine meiner letzten Tätigkeiten für ihn verzweifelt versucht hatte, einen Wecker für sein Sterbebett zu besorgen. Er wollte unbedingt wissen, wie spät es ist. Und als ich den Wecker endlich hatte, interessierte er ihn nicht mehr. Wenn man stirbt, verliert alles an Bedeutung und man IST einfach nur noch. Wir fallen alle aus der Zeit, irgendwann. Meine Mama ist durch die Demenz einfach schon viel früher aus der Zeit gefallen.

Sowohl bei Mama als auch bei Papa bin ich bei ihrem Sterben der Zeit hinterhergerannt. Es war eine unlösbare Aufgabe.

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