Mama, der Blitzableiter

Mein Herz, es weint. LadyGaga wird immer unkontrollierbar. Heute Morgen war alles noch in Ordnung. Bis zu dem Zeitpunkt, als sie ihre Jacke anzog. «Es ist kühl draussen, willst Du nicht doch die dickere Jacke nehmen?», fragte ich sie liebevoll. «Nein!», brüllte sie mich ohne Vorwarnung an. «Ich. Bin. Jetzt. Sauer!!» Ich schwieg. Copperfield stand bei ihr und strahlte seine grosse Schwester an. Er ging auf sie zu, wollte sie wohl umarmen. «GEH WEG, COPPERFIELD!», schnitt sie ihn mit eisiger Stimme. Copperfield fing an zu weinen. Ich sagte – nichts. Wenn ich geschimpft hätte, wäre es wieder ausgeufert. Sie hätte gesagt, dass ich Copperfield mehr liebe als sie. Dass ich sie nicht haben will. Dass sie jetzt weggeht, dass wir keine richtige Familie sind. Dass sie immer alles falsch macht. Dass niemand sie versteht. Dass sie doof ist. Dass ich viel mehr mit Copperfield knuddle als mit ihr. Dass, dass… dass was?
Ich schwieg also. Aus Angst, etwas Falsches zu sagen, das sie – schon wieder – gegen mich aufbringen würde.

Aber diese Szene tat meinem Mamaherz so weh, dass ich anfing zu weinen. Copperfield hatte ihr nichts getan, und sie bestrafte ihn für – nichts. Ich litt.

Als sie meine Tränen sah, war sie geschockt. Sie stammelte, dass es ihr leid tue, dass sie mich nicht verletzen wollte. Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Ich würgte meine Tränen runter, sagte aber auch, dass ich einfach nicht verstehe, warum sie so wütend auf mich und die ganze Welt ist. Irgendetwas läuft bei uns gerade gehörig schief.

(c) Fotolia
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Szenenwechsel

LadyGaga und ich tanzen zusammen. Copperfield kommt dazu und will auf der Arm. Er jauchzt vor Vergnügen, als ich ihn rumwirble. LadyGaga ist zu schwer zum Tragen. Sie soll um uns herum tanzen, schaut mich aber nur mit grossen traurigen Augen an und verlässt wortlos die Szene. Ich gehe zu ihr, erkläre, tröste. Sie weint vor Eifersucht. Sie ist die Grosse und will viel lieber die Kleine sein.

Ich hole die Kinder aus der Kita ab. LadyGaga stürzt sich auf mich, Copperfield folgt auf dem Fuss. LadyGaga zieht sich sofort zurück, als der Kleine bei mir ist.

LadyGaga ist zu einem Kindergeburtstag eingeladen. Copperfield und ich bleiben zuhause. Wir malen für kurze Zeit (zu kalt!) mit Kreide auf dem Vorplatz. Eine Woche danach heult LadyGaga plötzlich los: «Ihr habt einfach ohne mich mit Kreide gemalt! Überhaupt sieht Copperfield Dich den ganzen Tag und ich nur nach der Vorschule am Nachmittag!»

Mein Kind braucht Nähe

Ja, ich sehe das Problem. LadyGaga braucht offenbar mehr Aufmerksamkeit, mehr Mamazeit, mehr Nähe. Nur: Die kriegt sie laufend. Es ist nicht so, als würde ich mich nur um Copperfield kümmern. Ich gehe mit LadyGaga alleine einen Schulranzen einkaufen, nur wir zwei. Am Geburtstag meines Mannes sind wir zu dritt, ohne den Kleinen, ins Kino gegangen. Sie hat exklusive Mamazeit und exklusive Papazeit, immer wieder. Abends, wenn der kleine Bruder im Bett ist, hat sie uns ganz für sich allein. Jeden Tag. Wir knuddeln, lachen, spielen. Aber es reicht nie. Ich sage ihr, wie stolz ich auf sie bin, ich lobe sie, wenn sie etwas gut macht. Aber ich schimpfe auch, wenn sie etwas nicht so gut macht. Sie ist dann immer beleidigt, und ich erkläre ihr zähneknirschend, dass ich fucking 39 Jahre alt bin und etwas mehr Erfahrung auf dem Buckel habe als sie. Macht nix.

Ambivalenz der Gefühle

LadyGaga sagt verschwörerisch zu mir: «Weisst Du, den Copperfield mag ich ja am liebsten von euch dreien. Er ist so niedlich! Dann mag ich Dich, und dann den Papa.»
Was bin ich erleichtert, wenn sie sowas sagt. Ich freue mich, dass sie ihren Bruder liebt, ja sie vergöttert ihn regelrecht. Gleichzeitig möchte sie ihn aber vom Kleinkind-Thron stürzen. Alles normal, ich weiss.

Aber sie flippt nicht nur wegen Copperfield aus. Wenn ich nur den Mund aufmache und IRGENDETWAS sage, ist das Grund genug für sie, auszuflippen. Wenn ich nicht so reagiere, wie sie es wünscht, tickt sie aus. Wenn sie müde ist, tickt sie aus. Wenn die Socke juckt, tickt sie aus. Wenn sie einen schlechten Tag in der Vorschule hatte, tickt sie bei der Ankunft zuhause aus – immer bei mir.

Mit ihrem Beleidigt sein kann ich leben (und umgehen). Aber die Wutausbrüche bringen mich an meine Grenzen. Ich spüre, wie mein Nervenkostüm zittert. Was geht ab in diesem Kind? Wer ist dieses fremde Monster, das sich jeden Tag auskotzt und mich als Blitzableiter missbraucht? Schimpfen bringt nichts, trösten auch nichts. Mehr Aufmerksamkeit bringt nichts. Alles probiert. Es ist nie nie nie genug. Ich komme meiner Tochter gerade nicht bei und habe das Gefühl, sie ein Stück weit zu verlieren. Jetzt schon?!

Völlig verzweifelt suchte ich heute Morgen Trost bei Freundinnen, weil ich nicht weiter wusste. @endwinterwunder hat die richtigen Worte für mich gefunden, die ich euch nicht vorenthalten möchte:

Sie testet euch. Wie weit kann ich gehen, wie weit stützen mich meine Eltern. Als beginnendes Schulkind geht sie ein stückweit in die Welt hinaus. Sie testet ihr Sicherheitsnetz.

Man kann seine Eltern nicht immer nur toll finden. Sie sind zum Kuscheln und Liebhaben da, aber auch und vor allem, um einen auf dem schwierigen langen Weg zum Erwachsenwerden zu begleiten, den Rücken frei zu halten.

Ganz logisch sind solche Ausbrüche schwer zu ertragen. Du bist ein Mensch und kein Boxsack. Aber Du musst Dir klar machen, dass sie im Grunde nichts mit Dir zu tun haben. Du kannst nichts tun, um sie zu verhindern. Nur da sein, aushalten, lieben.

Ich bin da, LadyGaga. Ich bin immer da.

14 thoughts on “Mama, der Blitzableiter

  1. Oh man, das ist wie ein Spiegel 🙁 bei uns zu Hause ist seit der Geburt unser zweiten Tochter genau dieses Bild wieder zu finden. Aber unsere Große war schon immer sensibler und reagierte auf viele Dinge einfach über. Nur seit der Geburt der Kleinen ist es noch schlimmer geworden. Wir haben uns dann Hilfe gesucht und eine Psychologin stellte fest das sie wohl hochsensibel sei. Das ist keine Krankheit sondern eine Aneignung/Gabe mit der man aber lernen muss um zu gehen. Viel Geduld und Verständnis ist gefragt.
    Das heißt nicht das ich denke das deine Tochter hochsensibel ist 😉 Aber ich denke diese Phase gehört zum Leben dazu bei manchen mehr bei anderen weniger. Und manche kommen wohl besser damit zurecht wenn noch ein Geschwisterkind kommt und andere nicht. Ich wünsche euch alles gute und viel Geduld für diese Zeit 😉

    1. LadyGaga hat durchaus hochsensible Tendenzen, denn sie hat z.B. Mühe mit Kleidungsstücken (eben: Socken etc…). Ich lasse das aber nicht weiter abklären, sondern versuche es mit Achtsamkeit. Bisher hat sie das mit dem kleinen Bruder sehr gut weggesteckt udn sie vergöttert ihn wie gesagt, aber jetzt plötzlich dreht sie voll auf. Ich hoffe auf BNesserung mit dem Schuleintritt im August.

      1. Das mit dem empfindlichen Reagieren auf Kleidungsstücke ist ‚hochsensitiv‘. Ist wieder was anderes als ‚hochsensibel‘. Könnte dazu ganz viel schreiben… Würde hier aber eher nicht passen…

    1. oh ich wollte keine Angst machen! Im Endeffekt ist jedes Kind anders und es lässt sich nicht vorhersagen, wer wann wie oft und weshalb schwierig wird. ich drücke die Daumen, dass der Kelch an euch vorübergeht! 😉

      1. Ja, das stimmt. Aber irgendwann müssen wir da sicher alle durch. Weil diese Tests und Wutanfälle ja (leider) wichtig sind. Aber wie du in deinem Text so schön schreibst: Das hat im Grunde nichts mit den Eltern zu tun. Das müssen wir Mütter uns immer wieder sagen 😉

  2. Was für wunderschöne kluge Worte zum Schluss!! Ich werde sie mir aufhängen, denn alles wAs Du hier schreibst kommt mir so bekannt vor. Besonders nach der Geburt der Zwillinge wurde die Motte immer öfter wütend – genau wie Du hier eben schreibst. Dabei liebt sie ihre Geschwister- es geht immer gegen mich! Auch der Papa bleibt weitestgehend verschont. Und auch ich weiß natürlich dass es nicht gegen mich persönlich geht, sondern dass sie es doof findet, dass ich nun nicht mehr so viel Zeit für sie habe wie vorher. Und auch wenn auch ich versuche immer wieder Exklusivzeit mit ihr zu verbringen: ich werde diese Wutausbrüche wohl noch eine Weile ertragen müssen!! Gut zu wissen, dass man nicht allein ist mit diesen Sorgen! Liebe Grüße

    1. Unsere Tochter (zweieinhalb) muss uns Eltern auch seit zweieinhalb Wochen mit ihren beiden Zwillingsbrüdern teilen. Als ich deine Blogbeiträge durchging ist mir sowas irgendwie nicht aufgefallen, aber beruhigend zu wissen, dass wir damit nicht alleine sind. Zum Glück richtet sich ihre Wut/ihr Frust hauptächlich gegen mich und ab und zu gegen meinen Mann und bisher nicht gegen die beiden Würmchen. Das bleibt hoffentlich auch weiterhin so.

      1. PS: Und doch bin ich im Moment oft ziemlich traurig, weil ich die Gefühle der Tochter gut nachvollziehen kann – ich vermisse sie schließlich auch unheimlich, nur kann ich dieses Gefühl in Worte fassen.

  3. Liebe Mama on the Rocks, das kommt mir sehr bekannt vor… Das erlebe ich sehr oft… Manchmal hilft dann das Angebot einer Umarmung manchmal geht einfach gar nichts mehr. Dann sage ich meinem Sohn einfach, dass ich in ganz fest gerne habe… (Zur Info: unser Sohn ist 19 Jahre alt und 178 cm gross)

  4. Hallo,
    bei uns ist es grade das Gleiche, nur dass wir einen Schritt weitergekommen sind. Meine Große (5,5 Jahre alt) war von Anfang an ein Kopfmensch. Wenn irgendwas nicht lief, wie sie mochte, dann machte sie meist mit dem nächsten weiter. Wenn sie „trotzte“, dann legte sie sich kommentarlos auf den Boden und blieb dort ohne einen Mucks zu machen. Und plötzlich kamen vor ein paar Wochen Gefühlsausbrüche mit der Macht von Naturkatastrophen und mein Kopfkind war maßlos überfordert. Sie schlug, trat, kratzte ihren Papa immer mit dem Ziel zu mir zu kommen. Mein Kind, der Inbegriff von lieb (warum auch immer 😉 ), wendete Gewalt an. Ich redete mit ihr. Sie wollte niemandem weh tun. Sie hatte in diesen Momenten einfach keine Kontrolle über sich. Es war das erste Mal in meiner Zeit als Mama, dass ich dachte, ich würde nie herausfinden, was sie hat, würde nie einen Weg finden, richtig auf sie einzugehen. Es war das erste Mal, dass ich mich hilflos fühlte und ich nicht wusste, wie ich ihr helfen kann.
    Ich recherchierte und fand heraus, dass Kinder mit etwa 5,5 Jahren zum ersten Mal mehr als ein Gefühl gleichzeitig erleben. Grade für meine Große stand hilflos davor.
    Irgendwann fiel mir auf, dass ihr Verhalten dem eines Babys im Wachstumsschub glich. Sie wollte nur zu mir und bediente sich instinktiv aller Mittel, die ihr möglich waren, um ihr Ziel zu erreichen. Wieder durchforstete ich das Internet und fand heraus, dass sich bei Kindern zwischen fünf und sechs Jahren das Hirnareal, das für die räumliche Wahrnehmung verantwortlich ist, um bis zu 85% umstrukturiert. Das zu lesen, meine Vermutungen bestätigt zu wissen, hat mir sehr geholfen. Ich habe sie durch ihre Wutanfälle begleitet (unser Glück, das eben dies alles war, was sie in diesen Momenten wollte) und ihr vor allem immer wieder gesagt, dass sie normal ist. Das zu hören tat ihr sehr gut, da sie selbst so geschockt von sich und ihrem Handeln war. Seit etwa anderthalb Wochen ist es viel besser geworden. Sie hat weniger „Ausbrüche“ und ich erkenne mittlerweile recht früh, wenn es ihr wieder zu viel wird. Nun, da es zur Ruhe kommt, merke ich, dass sie sich verändert hat. SIe ist reifer geworden. Erwachsener klingt übertrieben, aber sie hat mehr Charakter bekommen, mehr eigene Vorstellungen, stärker irgendwie und doch.. erwachsener passt schon. Es war ein Knall mit Folgen und daran muss ich mich erst mal gewöhnen.
    Ich wünsche euch ganz viel Kraft und Geduld bis ihr euren Weg findet, diese aufmürbende Phase zu bewältigen! Ich hoffe, unser Erlebnis gibt dir etwas Trost, denn du bist nicht allein!
    Liebe Grüße
    Christin

    1. Liebe Christin
      Deinen Kommentar finde ich extrem spannend – der rationale Ansatz hilft mir grad sehr, vielen Dank dafür!
      LG
      Séverine

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